Spielen ist ein wichtiger Bildungsbaustein

01.09.2020

Spielen wird unterschätzt. Es ist nicht einfach nur ein kindliches Grundbedürfnis, sondern vielmehr ein wichtiger Beitrag für eine gesunde Entwicklung. Für Kinder ist das Spiel der Zugang zur Welt. Sie erforschen, erleben, begreifen und erfahren im Spielen Dinge, die später für das Leben und Lernen von Bedeutung sind.

Levin stapelt mit seiner Freundin Victoria Bauklötze übereinander. Beide sind in das Thema „Ritterleben“ eingetaucht, haben im ganzen Raum Festungswälle angelegt und sind sich sicher, je höher der Turm, desto besser die Abwehr. Ein hohes Gebilde ist bereits entstanden. Dann versucht Levin, einen besonders großen Klotz ganz oben auf das wackelige Gerüst zu legen. Der Turm stürzt ein. Immer und immer wieder versuchen es die beiden erneut.

Dann ändern sie plötzlich ihre Strategie und beginnen mit den großen Bauklötzen zuerst und legen am Schluss die kleinen, leichteren oben drauf.

Spielen ist ein Lernprozess

Die Begriffe Spielen und Lernen sind bei Kleinkindern und Kindern im Vorschulalter untrennbar miteinander verbunden. Das steht auch im Bildungsplan Baden-Württembergs und soll unterstreichen, dass das Spiel des Kindes Grundlage für alle Lernerfahrungen ist. Und trotzdem sind diese beiden Begriffe Spielen und Lernen ganz differenziert zu betrachten. Ein Kind spielt um des Spielens willen aus eigener Motivation heraus. Spielen ist zweckfrei. Lernen dagegen nicht. Beim Lernen gibt es genaue Ziele und Vorgaben.

Das vordergründige Lernen scheint in erster Betrachtung einigen Eltern effektiver. Deshalb fällt schon mal der Satz zum alltäglichen Geschehen im Kindergarten: „Die spielen ja nur!“ Erzieherinnen und Erzieher können diese Äußerung auch als Abwertung ihrer Arbeit empfinden. Es erweckt den Eindruck, als ließe man die Kinder einfach machen und würde sich nicht kümmern.

Dabei verhält es sich eher anders herum: Ein gezieltes Lernprogramm kann kein Ersatz für das Lernen durch Spielen insbesondere bei Kindergartenkindern sein.

Geige und Englisch statt spielen?

Immer wieder gibt es Ansätze, schon Kindergartenkinder durch gezieltes Üben zu fördern. Das Pisa Ergebnis 2001 schockte Lehrer, Eltern und Kultusministerien. Infolge dessen sollten Kinder zukünftig besser für die Schule und das spätere Berufsleben vorbereitet werden. Es entstanden bilinguale Einrichtungen, frühmusikalische und interkulturelle Erziehungsmethoden, Kurse im Kindergarten in Gesundheitsförderung und klassischer Musik. Einige Kinder lernten schon früh, mit den Computern umzugehen, andere besuchten Benimm-Kurse oder lernten bereits mit drei Jahren Geige spielen. Vor lauter Angeboten blieb einigen Kindern kaum noch Zeit zum Spielen. Kinderarzt Herbert Renz-Polster, Experte für frühkindliche Entwicklung, warnt immer wieder, dass Kinder nicht überfordert werden sollen. Er spricht sich für Freiräume aus, weg vom „Beschleunigungsdenken“. „Gestresste Kinder lernen nicht!“, so Renz-Polster. Nimmt man ihnen den Stress und reduziert die strukturierten Lernangebote, haben sie mehr Freiraum zum Spielen. Und: Was die Kinder im Spiel lernen, kann durch keinen Kurs ersetzt werden. Das gilt ganz besonders für Kinder im Alter von null bis sechs Jahren.

Spielen trainiert das Gehirn

Hirnforscher haben herausgefunden, dass Kinder beim Spielen vielfältige Erfahrungen machen und diese Auswirkungen auf die Leistung des Gehirns haben. In den ersten Lebensjahren bilden sich wichtige Nervenverbindungen. Das Gehirn lernt, alle Informationen zu verarbeiten. Dadurch entstehen zahlreiche Verknüpfungen. Je mehr Denkanstöße und Sinnesreize das Kind erlebt, desto stärker wird die kindliche Gehirnentwicklung unterstützt und das neuronale Netz ausgebildet und gefestigt.

„Der Förderwahn dagegen geht völlig am Kind vorbei“, erklärt der Hirnforscher Ralph Dawirs, Professor für Neurobiologie am Universitätsklinikum Erlangen und Mitautor des Buches „Hallo, hier spricht mein Gehirn“. Für das Abspeichern von Wissen sei das Langzeitgedächtnis zuständig, das allerdings erst im Alter von sechs Jahren so ausgebildet ist, dass es den Lernstoff entsprechend aufnehmen kann. In den Jahren davor zählen vielmehr Urvertrauen, soziale Bindungen und eigene Erfahrungen.

Kompetenzen erlangen

Das Spielen hat zweifelsohne eine große Bedeutung für die kindliche Entwicklung. „Doch auch wenn diese Erkenntnisse schon lange vorliegen und weitestgehend in der Praxis bekannt sind, erschreckt auf der anderen Seite die Realität, dass es zunehmend mehr Kinder und Jugendliche gibt, die bereits kaum noch spielen (können)“, sagt Armin Krenz, Sozialpädagoge und Autor.

Für die Pädagogen ist es eine große Herausforderung, das Spielen in vielfältiger Art anzubieten und Räume für verschiedene Spielformen zu ermöglichen. Fachkräfte sollten eine Atmosphäre schaffen, in der altersgerechte Spielformen stattfinden können und in der die Kinder angeregt werden, sich spielerisch mit ihrem Umfeld auseinanderzusetzen. „Jede Spielform hat ihren besonderen und einzigartigen Wert im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern“, so Armin Krenz.

Es gibt Singspiele, Bewegungsspiele, Wahrnehmungsspiele, Rollenspiele, Strategiespiele, Naturspiele, Regelspiele und vieles mehr. Jede Art des Spielens fördert bestimmte Schwerpunkte, hat aber oft noch viele Nebeneffekte: Förderung der Grob- und Feinmotorik, der Kommunikation, des Sozialverhaltens, des Selbstbewusstseins, der Kreativität oder der emotionalen Kompetenz. Insgesamt werden im Spiel alle kognitiven Fähigkeiten angesprochen, im freien Spiel noch viel mehr, als in der angeleiteten Form.

Schon bei Platon stand das Spielen hoch im Kurs

Spiel war von jeher ein wichtiges Element in der Kulturgeschichte der Menschen. Bereits in der Antike, etwa bei Platon, wurde über die Erziehung mittels des Spiels nachgedacht. Mit fortschrittlichen Pädagogen, wie beispielsweise Fröbel oder Pestalozzi, entstand eine moderne Kinder- und Jugenderziehung, in der das Spielen einen herausragenden Platz einnahm. Friedrich Fröbel bezeichnete vor rund 200 Jahren das Spiel als höchste Stufe der Kindheitsentwicklung, in der es vor allem darum gehe, Äußerliches innerlich und Innerliches äußerlich zu machen, entsprechend der Vorstellung, dass Eindrücke ausgedrückt werden müssen und das eigene Ausdrucksverhalten einen Eindruck in der Welt hinterlassen soll.

Das kann natürlich nur funktionieren, wenn das Spielen auch Spaß macht. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hatte Anfang des letzten Jahrhunderts erkannt „Spiel ist geistige oder körperliche Tätigkeit, die keinen unmittelbaren praktischen Zweck verfolgt und deren einziger Beweggrund die Freude an ihr selbst ist.“ Nur so kann es zu einem unbewussten Lerneffekt kommen.

Spielen vermittelt vor allem auch ein Gruppengefühl, es gibt Sicherheit und Geborgenheit und die Chance, Freundschaften zu schließen. Das gemeinsame Spiel ermöglicht es auch, mit anderen gemeinsam Ideen zu entwickeln, sich inspirieren zu lassen, so wie Levin und Victoria das beim Bau ihrer Ritterburg gemacht haben. Sie haben gleichzeitig durch das Spiel mit den Bausteinen - die stellvertretend für alle anderen Spielmaterialien stehen - im Spiel kognitive, motorische, soziale und kreative Herausforderungen gemeistert und ganz nebenbei demokratische Prozesse kennengelernt, indem sie die Ideen des anderen mit aufnehmen, eigene Fantasien umsetzen, aber sich auch von Inspirationen anregen lassen.

Kinder wollen die Welt erforschen. „Wenn du einem Kind etwas beibringst, nimmst du ihm die Chance, es selbst zu entdecken“, mahnte schon der Entwicklungspsychologe Jean Piaget. Erwachsene verfügen bereits über viele Informationen, Kinder jedoch nicht. Sie haben noch sehr viel zu lernen und es ist nicht immer die Aufgabe der Erwachsenen, den Kindern alles beizubringen und vorzusagen. Man muss ihnen erlauben, die Welt auf eigene Faust zu entdecken, Fragen zu stellen und auf ihre Art zu experimentieren.

Also: Kinder, spielt! Spieleforscher und Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass Kinder bis zum sechsten Lebensjahr etwa 15.000 Stunden gespielt haben sollten, das sind etwa sieben bis acht Stunden am Tag.

Auf dem Cover des Ratgeberbuches „Spielen macht schlau“ ist ein Junge in gestreiftem Pyjama und Idianerkopfschmuck abgebildet, der an einer weißen Leiter über einem roten Sofa turnt.

Buchtipp

Warum Fördern gut ist, Vertrauen in die Stärken Ihres Kindes aber besser.

Das Ratgeberbuch „Spielen macht schlau“ verrät Eltern, wie sie ihr Kind mit einfachen Mitteln in seiner Spiel- und damit Entwicklung unterstützten können. Die moderne Gehirnforschung hat gezeigt, dass Frühförderprogamme

für Kinder, wie beispielsweise Englischkurse, Ballettunterricht oder das Erlernen eines Instruments, überschätzt werden und das Lernen bei Kindern viel besser und weitreichender über das Spielen gefördert werden kann.

Zimpert zeigt auf, welches Spielzeug wichtig ist, welche Spielideen empfehlenswert sind, ob man als Eltern mitspielen sollte und welche Tipps es rund um das Spielen sonst noch gibt.

„Spielen macht schlau“ - Prof. Dr. André Frank Zimpel, GU Verlag, 47 Euro, E-Book 13 Euro