Auf dem Bild sieht man eine junge Frau, welche kurz davor ist, sich mit einer Schere selbst zu verletzen.
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Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen

01.11.2020

„Warum machst du das?“ fragen Eltern, wenn sie Schnittwunden am Arm ihrer Tochter oder ihres Sohnes entdecken. Sie sind besorgt und wissen häufig nicht, wie sie mit der Entdeckung, dass ihr Kind sich „ritzt“, umgehen sollen. Professionelle Unterstützung durch eine Beratungsstelle wie den Stuttgarter Mädchengesundheitsladen oder Jungen im Blick oder einen Psychiater ist hier auf jeden Fall hilfreich.

Wenn sich Jugendliche aktiv Verletzungen zufügen, etwa mit Messern, Rasierklingen, Scherben oder Nadeln, spricht man von selbstverletzendem Verhalten. Aber auch Verbrennungen durch eine Zigarette oder Verätzungen kommen immer wieder vor.

In einer Studie der Universität Heidelberg geben 13,4 Prozent der Jugendlichen an, sich in ihrem Leben mindestens dreimal selbst verletzt zu haben, Mädchen deutlich häufiger (18,4 Prozent) als Jungs (8 Prozent). „Während Mädchen dazu neigen, negative Gefühle mit sich selbst auszumachen, sind Jungen eher expansiv und lassen ihren Frust im sozialen Umfeld raus“, beobachtet Dr. Gunter Joas, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Esslingen.

Auf dem Bild sieht man einen Mann und eine Frau, welche sich gegenübersitzen. Der Mann hat etwas zu schreiben in der Hand. Es wird eine Therapieszene dargestellt.
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Es gibt vielfältige Gründe

Es gibt natürlich Selbstverletzungen mit suizidalem Hintergrund, die häufig im Rahmen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten, aber auch bei Depressionen, Ess-, Zwangs- oder Angststörungen. Doch in der Regel liegt keine psychiatrische Erkrankung vor, wenn Jugendliche sich selbst verletzen. „Wir sprechen hier vom nicht suizidalen selbstverletzenden Verhalten (NSSV)“, erklärt Joas. Die ersten Fragen, die er den Jugendlichen stellt, die in die Psychiatrische Institutsambulanz in Esslingen kommen, seien: „Wie hast du dich davor gefühlt?“, „Warum hast du es dann getan?“ und „Wie fühlst du dich danach?“ So kann der erfahrene Psychiater schnell erkennen, welches die Ursachen für das NSSV sind.

„Es kann ganz banal sein, dass Jugendliche in der Peer-Group nachgeahmt werden. Aber auch das Bedürfnis nach Anteilnahme durch Lehrer und Eltern spielt häufig eine Rolle“, beobachtet Joas. Auch für Jugendliche, die sich selbst „nicht fühlen“, mache es Sinn, sich zu verletzen, denn sie spüren dabei keinen Schmerz, sondern eben sich selbst und eine Entlastung von einer inneren Anspannung. Aus dem Glücksgefühl, das dabei entsteht, kann sich jedoch leicht ein suchtartiges Verhalten entwickeln: „Hier besteht bei etwas älteren Jugendlichen die Gefahr der Symptomverlagerung in Drogenkonsum oder Erbrechen“, beobachtet Joas.

Ähnliche Erfahrungen machen auch die Mitarbeiter des Stuttgarter Mädchengesundheitsladens: „Viele der Mädchen, die zu uns kommen, nutzen die Selbstverletzung, um mit Emotionen wie Wut oder Trauer umzugehen, oder weil sie sich alleine gelassen fühlen“, beobachtet Julia Hirschmüller, die stellvertretende Leiterin und Mitarbeiterin des Stuttgarter Mädchengesundheitsladens. „Oder sie versuchen einen großen inneren Schmerz durch die Selbstverletzung zu regulieren“, so Hirschmüller weiter. Auch sich selbst zu bestrafen, weil man etwas nicht hingekriegt hat, sei immer wieder ein Grund für den Akt der Verletzung.

Eltern sollten frühzeitig das Gespräch suchen

Eltern, die feststellen, dass ihr Kind sich selbst verletzt, sind oft verunsichert und fragen sich, was sie falsch gemacht haben. Wenn sie in den Stuttgarter Mädchengesundheitsladen kommen, versuchen die Mitarbeiter sie möglichst zeitnah zu beraten. „Für uns ist es wichtig, die Eltern mit einzubeziehen“, betont Hirschmüller, „nur so können wir der Sprachlosigkeit zwischen Jugendlichen und Eltern, die häufig mit der Selbstverletzung einhergeht, entgegenwirken“.

Wenn die Mädchen sich wahrgenommen fühlen und ihr Selbstwertgefühl gestärkt wird, lernen sie dabei andere Wege kennen, mit ihren Emotionen umzugehen. Sich professionelle Hilfe zu suchen, ist darum für Eltern entlastend und effektiv in Bezug auf das Finden neuer Möglichkeiten, mit ihrem Kind ins Gespräch zu kommen.

Auch der Chefarzt der Esslinger Kinder- und Jugendpsychiatrie fordert Eltern, die Selbstverletzungen an ihrem Kind entdecken, dazu auf, „das Thema so früh wie möglich anzusprechen“. Wichtig sei dabei, dass die Eltern eine „konstruktive Sorge signalisieren, ihr Kind ernst nehmen und keine Verbote aussprechen“, betont Joas weiter.

Buchtipp

 Pamela Wersin/ Susanne Schoppmann: Selbstverletzendes Verhalten. Wie Sie Jugendliche unterstützen können, Balance Ratgeber 2019, EUR 15,00, ISBN 978-3-86739-176-4