Psychische Gesundheit bei Kindern: Warum Bindung wichtiger ist als Bildung

16.04.2025

In der Esslinger Kinder- und Jugendpsychiatrie werden junge Patienten mit psychischen Auffälligkeiten von Dr. Gunter Joas und seinem Team betreut. Im Gespräch mit dem Luftballon verrät der erfahrene Arzt, was wichtige Grundlagen für eine gesunde psychische Entwicklung von Kindern sind.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Esslinger Klinikum ist mehr als ausgelastet, es gibt eine lange Warteliste für die jungen Patienten. Ähnlich sieht es in anderen Kliniken und Kinder-  und Jugend­therapeutenpraxen aus. Gibt es wirklich im­mer mehr Kinder und Jugendliche, die psychische Probleme haben?

Tatsächlich gibt es immer mehr Kinder und Jugendliche, die Unterstützung durch Psychotherapeuten benötigen. Die Frage ist allerdings, ob dies nicht auch daran liegt, dass wir heutzutage hellhöriger sind und genauer hinschauen, wenn ein Kind oder Jugendlicher sich auffällig verhält.

Aber natürlich „passen“ psychische Stö­rungen auch in unsere Welt. Früher waren es Infektionskrankheiten, die aufgrund mangelnder Hygiene nur schwer in den Griff zu bekommen waren und heute sind es psychische Erkrankungen, die unsere Gesellschaft hervorbringt. Dies liegt insbesondere an dem Anpassungsdruck, der unser Leben prägt. Gerade Eltern haben den gutmeinenden Anspruch, dass in ihrer Familie alles klappen muss und ihre Kinder funktionieren und alles perfekt hinkriegen sollen. Aber das funktioniert eben nicht.

Zur Person

Männliche Person lächelt in die Kamera. Er sitzt an einem Tisch.
© Klinikum Esslingen
Eine Puppe für Rollenspiele sitzt auf einem Stuhl.
© Klinikum Esslingen

Dr. Gunter Joas, wurde 1964 in Böblingen geboren. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.  15 Jahre lang war er leitender Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Olgahospital Stuttgart und ist seit April 2014 Chefarzt im Klinikum Esslingen.

www.klinikum-esslingen.de

Mit welchen psychischen Auffälligkeiten kommen Kinder und Jugendliche zu Ihnen?

Bei Kindern im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren werden häufig Angststörungen in jeglicher Form diagnostiziert. Dies sind meist soziale Ängste im Umgang mit anderen Kindern, aber auch Ängste, nicht alleine sein zu können oder ähnliches. Kinder mit Angststörungen können zu depressiven Ausprägungen neigen. Darum ist es in diesem Alter besonders wichtig, präventiv zu arbeiten, damit sich eine solche Störung nicht festigt und in eine Depression führt. Außerdem gibt es immer mehr Kinder mit hyperaktiven Aufmerksamkeitsstörungen, die sich dann auch in ihrem Umfeld aggressiv verhalten und sozial unverträglich sind.

Bei Jugendlichen sind Essstörungen verbreitet, zu denen besonders Mädchen neigen, die einem in unserer Gesellschaft vorherrschenden Schönheitsideal von übermäßig schlanken Frauen entsprechen wollen. Auch Selbstverletzungen wie beispielsweise „Ritzen“ sind bei Jugendlichen verbreitet. Und dann gibt es leider immer mehr Schulverweigerer. So unterschiedlich wie das Alter der Schüler sind auch deren Gründe für die Verweigerung. Die Bandbreite reicht hier von sozialen Problemen mit den Mitschülern bis hin zur Überforderung, die auch bei guten Schülern zu beobachten ist.

Tipp

Eltern sollten nicht denken, dass sie perfekt sein müssen. Das verschafft ihren Kindern nur weiteren Druck, ebenso perfekt zu sein, denn die Eltern sind das Vorbild für die Selbstwahrnehmung ihrer Kinder. Mut zur Lücke und eine gewisse Gelassenheit sind darum wichtige Eigenschaften, die auch den Familienalltag erleichtern.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern die Grundlage für eine gesunde psychische Entwicklung zu geben?

Das wichtigste ist die Bindung. Die meisten unserer Patienten sind unsicher gebundene Kinder, die nach Orientierung und Halt suchen. Diesen Halt können Eltern ihren Kindern geben, indem sie ihnen Vertrauen entgegenbringen und sie dabei unterstützen, ihr eigenes Leben zu gestalten, auch wenn es nicht unbedingt so verläuft, wie es sich die Eltern wünschen würden. Bruce Springsteen schreibt in seiner erschienenen Biographie: „Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn, der Feuerwehrmann geworden ist“. Und genau das meine ich, wenn ich Eltern rate, ihre Kinder so anzunehmen, wie sie sind. Sie sollten ihr Kind loben, wenn es sich einem Problem gestellt hat, auch wenn das Ergebnis nicht perfekt ist.

„Bindung kommt vor Bildung“ und das betrifft auch und gerade den Schulalltag, der viel zu sehr durch Bildung bestimmt wird und die Bindung vernachlässigt. Mit dem Run auf die Gymnasien haben Eltern ihren Kindern keinen Gefallen getan. Um sicherzugehen, dass ihr Kind auf einer Schule gut aufgehoben ist, sollten Eltern mit einer gewissen Gelassenheit und am besten im Gespräch mit dem Lehrer überprüfen, welche Schule für ihr Kind die richtige ist. Dies schafft eine sichere Basis, auf der sich die Kinder entwickeln können.

Zu den Erwartungen in der Schule kommt häufig leider auch noch ein prall gefüllter Terminkalender mit Freizeitangeboten. Auch diesen sollten die Eltern zusammen mit ihren Kindern entrümpeln und schauen, was überhaupt sinnvoll und machbar ist. Viele Schulverweigerer sind beispielsweise schlichtweg überfordert durch die Anpassungserwartung ihrer Eltern.

Welche Verantwortung trägt dabei die Schule?

Die Schule ist schon lange nicht mehr nur Lernort, sondern Lebensort. Die Beheimatung in der Schule ist darum ebenso wichtig für die Entwicklung wie die Bindung in der Familie und ein gutes familiäres Binnenklima. Zusammen gestalten sie die Lebenswirklichkeit der Kinder. Der Austausch zwischen Eltern und Lehrern ist darum besonders wichtig. Überhaupt gewinnt die Vernetzung von Familie, Schule, aber auch anderen Insti­tutionen wie dem Jugendamt und anderen Beratungsstellen an Bedeutung. Hier müs­sen wir Hemmschwellen abbauen und nieder­schwellige Zugangswege schaffen, sodass diese frühzeitig in Anspruch genommen werden.

Die Erwartung der Eltern an die Lehrer ist enorm und auch der Umgang mit den Schülern ist nicht gerade einfacher geworden. Alleine schaffen das die Lehrer nicht mehr, weshalb es umso wichtiger ist, dass genügend Schulsozialarbeiter und Schulpsychologen an den Schulen zur Verfügung stehen.

Können Eltern ihre Kinder dabei unterstützen, Widerstandsfähigkeit gegenüber Problemen (Resilienz), zu entwickeln?

Kinder brauchen die Herausforderung. Sie müssen lernen, dass es Probleme gibt und dass sie diese selbst lösen können. Die Probleme werden häufig zu schnell von den Eltern aus dem Weg geräumt. Das ist zwar meist gut gemeint, aber Verwöhnung kann genauso schaden wie Vernachlässigung. Wenn immer alles perfekt läuft, stehen die Kinder bei Herausforderungen oft hilflos da.

Außerdem ist es eine Frage der Haltung der Eltern. Wir hinterfragen in unseren Elterngesprächen oft, wie denn die Eltern selbst mit Problemen umgehen.  Sagen sie „oh je, wir haben ein Problem, wie sollen wir das je lösen?“ oder stellen sie sich dem Problem, indem sie reflektieren „was ist zu tun, um das Problem zu lösen?“

Viele der Eltern unserer Kinder leben getrennt. Das heißt allerdings nicht, dass „Schei­dungs­kinder“ leichter psychische Krankheiten entwickeln. Die Frage ist vielmehr, wie sich die Eltern getrennt haben und deren Umgang mit der Problematik.