Orientierungslos nach dem Abi? So finden Jugendliche ihren Weg in Studium, Ausbildung oder Beruf

01.06.2020

Bis zur Abschlussprüfung sind viele Schüler sehr zielstrebig. Und danach? Ohne die von außen vorgegebene Struktur des Schulalltags fallen viele junge Menschen erst einmal in ein Loch. Nach der Schule folgt die große Orientierungslosigkeit. Diese Zeit des Übergangs ist eine Herausforderung für Kinder wie für die Eltern. Das erleben auch Berufsberater.

Von kein Plan zu let´s go

Junger Mann sitzt einen älterem Mann gegenüber und zuckt mit den Schultern.
© iStock.com/Auremar

„Und? Weißt du schon, was du mal machen willst?“ Eine der zentralen Lebensentscheidungen, die man als Mensch zu treffen hat, ist die Berufswahl. Die Frage nervt trotzdem. Die Ungewissheit, wie es nach der Schule weitergeht, war immer schon groß. In unserer Zeit scheint sie riesig. „Vor allem die Zeit nach dem Abi ist eine Lebensphase der Orientierung und für Eltern und Kinder eine enorme Herausforderung“, sagt Berufsberaterin Angela Friedrich aus Stuttgart.

Wie steht es um die Zukunftschancen von Berufen? Soll man sich an seinen Interessen orientieren? Oder sind eher die Begabungen Garant für eine erfolgreiche Berufswahl? Aus der Vielzahl der Möglichkeiten das Richtige für sich zu finden, damit tun sich viele junge Menschen schwer.

Dauerzustand orientierungslos

Joel zum Beispiel ist mittendrin in der Orientierungslosigkeit. Letztes Jahr Abitur gemacht, sehr gute Abschlussnote, ein bisschen gereist, ein bisschen gejobbt, viel gechillt. Er wirkt kein bisschen gestresst darüber, dass er noch nicht weiß, wie es weitergeht. „Meine Eltern haben am Anfang viel gefragt und versucht, mir bei der Wahl des Studiums zu helfen. Jetzt habe ich sie darum gebeten, mich in Ruhe zu lassen. Ich interessiere mich für so viele unterschiedliche Themen und ich will mich einfach noch nicht festlegen. Die ständigen Fragen nerven, ich werde schon noch eine Entscheidung treffen.“

Für die Eltern ist diese Zeit ganz unbestritten eine große Herausforderung. Joels Vater ist zuversichtlich: „Er wird seinen Weg finden, ich vertraue ihm.“ Seine Mutter dagegen wirkt frustriert: „Ich habe das Gefühl, alle Ratschläge bewirken Widerstand. Dabei will ich nur helfen.“ Das Thema solle nicht jedes Zusammensein überschatten und dauerhaft zu Konflikten führen, wenigstens in diesem Punkt sind sie sich einig.

Aus der Erfahrung von Berufsberaterin Angela Friedrich sind die Eltern diejenigen, die den größten Einfluss auf die Berufswahl der Kinder haben. Die einen wollen auf keinen Fall den Beruf der Eltern ergreifen, die anderen wählen genau das. Besonders herausfordernd ist es, wenn Kinder etwas machen, was in der Familie noch niemand gemacht hat. Zum Beispiel einen höheren Schulabschluss oder ein Studium. „Für viele junge Menschen ist es gar nicht so einfach herauszufinden, welcher Beruf oder welches Studium passt.“ Für sie bietet die Agentur für Arbeit eine kostenlose Beratung an, die mehr Klarheit in den Gedankendschungel bringen soll.

Das Hauptziel dabei ist es, Zugang zu den eigenen Ressourcen zu bekommen. Also zu schauen, wo Talente und wo Interessen liegen. Man kennt sich doch selber am besten – könnte man meinen. Gerade das stimmt aber oft nicht. Die aktuelle psychologische Forschung hat herausgefunden, dass viele Menschen die eigenen Begabungen und Talente erstaunlich schlecht kennen. In der Psychologie ist dieses Phänomen der Selbstwahrnehmung als „Blind Spot“ bekannt.

Einer, der sich damit auskennt, ist Aljoscha Neubauer. Bezogen auf die Berufswahl ist die Psychologie bisher davon ausgegangen, dass wir uns automatisch für das interessieren, wofür wir geeignet sind. Eine Fehleinschätzung, meint Neubauer: „Begabung und Interesse liegen oft meilenweit auseinander.“ Der Professor für Persönlichkeitspsychologie hat intensiv über die Kluft zwischen Begabung und Interesse geforscht und ist zu dem Schluss gekommen: „Viele Menschen wissen nicht, wo ihre Stärken, Begabungen und Talente liegen.“

Das heißt, bei vielen Menschen gehen die Begabungen in eine andere Richtung als die Interessen und umgekehrt. Die Fähigkeit, sich selbst richtig einzuschätzen, ist beschränkt und das kann unter Umständen zu einer falschen Berufswahl führen. Könnte ja sein, dass man sich für etwas interessiert, für das man gar keine Begabung hat. Oder umgekehrt ein besonderes Talent für etwas hat, für das man bisher noch gar kein Interesse entwickelt hat.

Buchtipp

Aljoscha Neubauer, Mach, was du kannst -Warum wir unseren Begabungen folgen sollten - und nicht nur unseren Interessen. Mit Selbsttests, DVA 2018, 20 Euro, ISBN: 978-3-421-04793-9

Talente erkennen

Zurück zu Joel. Wie hebt man nun den Schatz? Angela Friedrich ist es sehr wichtig zu betonen, dass es dabei nicht darum geht, die Schulnoten von einzelnen Fächern zu analysieren. Sondern darum, Begabungen zu Tage zu bringen, die möglicherweise in der Schule gar nicht gesehen wurden, weil sie dort vielleicht gar keine Bedeutung hatten.

Friedrich begrüßt es deshalb, wenn Eltern beim Beratungsgespräch dabei sind. „An dieser Stelle können Eltern wertvolle Gegenüber sein, denn sie kennen ihre Kinder in der Regel am besten“, erklärt sie und gibt Beispiele für hilfreiche Fragen: Ist das Kind empathisch? Ein guter Zuhörer? Ist es sachlich? Kann es gut organisieren? Ist es schnell dazu bereit, zu helfen? Behält es einen kühlen Kopf in kritischen Situationen? Welche Hobbies, welche Aktivitäten macht es außerhalb der Schule? Was ist so selbstverständlich, dass man nie darüber spricht? Zum Beispiel ein Jugendlicher, der in seiner Freizeit Schiedsrichter in einem Verein ist. Er muss schnell erkennen können, ob Regeln eingehalten werden und unter Umständen auch stichfest begründen, warum er eine Entscheidung getroffen hat. Genau betrachtet sind das gleich mehrere Talente.

Orientierungsjahr

Begabungen kann man auch testen lassen. Auch hierfür bietet die Agentur für Arbeit eine Beratung und Testungen an. „Ein Mensch hat immer deutlich mehr Kompetenzen, als ihm tatsächlich bewusst sind. Für junge Leute ist es deshalb so schwierig, sie zu sehen, weil sie wenig Praxiserfahrung haben“, erklärt Friedrich.

Aus einer Phase der Orientierungslosigkeit kommt man am besten heraus, in dem man in Bewegung kommt. Etwas tun ist immer besser als nichts tun. Die alte Weisheit gilt auch für die Zeit des Umbruchs nach der Schule. Die Berufsberaterin steht einem Orientierungsjahr befürwortend gegenüber. Hat man herausgefunden, wo die Talente liegen, sollte man seine Begabungen real ausprobieren, indem man jobbt, Praktika, Schnupperlehren macht oder Schnupper-Vorlesungen besucht, rät sie. Im Orientierungsjahr lernt man sich aus einer anderen Perspektive kennen. Zum Beispiel kann ein Freiwilligendienst in einer fremden Umgebung jemanden dazu zwingen, auf eigenen Beinen zu stehen und eigene Entscheidungen treffen zu müssen. Plötzlich spürt die Person eine neue Selbstwirksamkeit.

Wie Cara. Nach dem Abi wusste sie noch nicht so richtig, welche Ausbildung sie anstreben wollte. Sie hat sich für einen Freiwilligendienst beworben und ein Jahr lang in einer sozialen Wohngemeinschaft zusammen mit Menschen mit Behinderung gelebt: „Um sich richtig ausführlich auf die Zeit nach dem Abi vorzubereiten, die Bewerbungstermine einzuhalten und die Unterlagen dafür fertigzustellen, muss man sich schon im Jahr davor kümmern. Damals war ich noch nicht so weit zu sagen, was ich machen will und ich hatte auch nicht die Ruhe dazu.“ Das Freiwillige Soziale Jahr hat ihr in ihrer Persönlichkeitsentwicklung viel gebracht, sagt sie, auch wusste sie danach, dass ihr Berufswunsch nicht in diesem Bereich liege.

Keine Angst vor falschen Entscheidungen

Viele junge Menschen hätten Zukunftsängste und sorgten sich darum, mit einer Entscheidung falsch gelegen zu haben, berichtet Friedrich aus ihren Beratungsgesprächen. „Diese Angst kann man nehmen. Ich fordere dann gern dazu auf, fragt mal eure Eltern oder Bekannte, wie sie zu ihrem jetzigen Beruf gekommen sind.“ Die wenigsten Berufsbiografien folgen einem strengen roten Faden. Eine Ausbildung oder ein Studium kann zu vollkommen unterschiedlichen Berufsfeldern führen, das können sich viele junge Menschen noch nicht konkret vorstellen, weil es naturgemäß an Erfahrungen fehlt.

Es sei auch normal, wenn jemand heute eine Idee toll findet und morgen eine andere Idee im Kopf hat. Sie ermutigt dann, genau anzuschauen, was ist plötzlich nicht mehr gut an der ersten Idee, was ist gut an der anderen Idee? Oftmals finde man Überschneidungen und man erhalte über diesen Umweg gute Hinweise auf Interessen oder Motive. Ihr ermutigendes Fazit, wie man die Zeit des Umbruchs gut nutzt: „Man fühlt sich in der Situation vielleicht orientierungslos. Dabei traut man sich selbst nur noch nicht zu sehen, dass dahinter schon wichtige Erkenntnisse verborgen sind. Man muss sie sich nur noch bewusst machen.“

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) bietet viele Angebote zur Orientierung per App, zum Beispiel „Berufe-Entdecker“, „AzubiWelt“ mit Videos zu Berufsbildern. Mit dem „Erkundungstool Check-U“ lässt sich anhand eines psychologisch fundierten Testverfahrens herausfinden, ob ein Beruf zu einem passt. Auch die Handwerkskammern bieten Berufsorientierungsangebote.

Tipps & Wissenswertes in Kürze

Hilfreiche Links für Eltern und Schüler 

Kontakt zur Berufsberatung der Bundesagentur für Arbeit