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Neurodiversität: Die Vielfalt unserer Gehirne

23.10.2025

Die einen können sich nichts merken, die anderen sind unkonzentriert, hyperempfindlich, ängstlich oder aggressiv. Dies können alles Zeichen für Neurodiversität sein, wovon jeder fünfte in Deutschland betroffen ist, auch viele Kinder.

Kindergeburtstage, Schwimmbadbesuch, Klassenfahrten oder anders gesagt, Trubel, Lärm und Action – was für die einen normal ist, kann für andere die Hölle bedeuten. Manch ein Gehirn nimmt alles gleichzeitig wahr, kann die Reize nicht so gut filtern. Auch Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Lernschwächen oder übermäßige Gereiztheit können Anzeichen für das sein, was Fachleute als „Neurodiversität" (neurologische Diversität) bezeichnen. Aber was bedeutet das?

Neurodivergenz ist keine Krankheit

Wenn jemand neurodivergent ist, bedeutet das, dass bei der Person Gehirnfunktionen von der als typischerweise „neurotypisch" geltenden Norm abweichen, somit neurologische Unterschiede vorliegen. Die kann verschiedene Ursachen oder Diagnosen umfassen.

Wichtig ist jedoch: Neurodiversität ist keine Krankheit und Neurodivergenz kein medizinischer Krankheitsbegriff, sondern eine Perspektive, die Vielfalt neurologischer Ausprägungen anerkennt. Es umfasst vielmehr ein Konzept, das die Verschiedenartigkeit der menschlichen Gehirne und deren Funktionen so akzeptiert, wie es ist und wertschätzt.

Neurodiversität bezieht sich häufig auf neurologische Unterschiede wie Autismus, ADHS, Dyslexie, Dyskalkulie, Legasthenie, das Tourette-Syndrom und andere neurologische Variationen, die den Alltag der Betroffenen beeinflussen und prägen.

Bei diesen Menschen sind die neurologischen Unterschiede so stark, dass die Alltags- oder Lernprozesse beeinträchtigt sind und spezifische Unterstützungen gefordert sind.

Aber: „Auch eine erhöhte Empfind­lich­keit gegenüber Umweltreizen wie Gerüchen, Geräuschen und Licht gehört dazu“, erklärt Judith Rommel, Dozentin an der Hochschule Stuttgart in einem Gast­beitrag im Hochschulforum. Neurodivers bedeutet auch, dass diese Menschen eine andere Funktionsweise ihrer neuroko­gni­tiven Verarbeitung haben. „Aufmerksamkeit und Erinnerung weichen von vorherr­schenden gesellschaftlichen Normen ab“, ergänzt die Barmer Ersatzkasse.

Anderssein kann anders sein

Smilla kennt das. Auch sie gilt als neurodivers. Sie kann nur schwer damit umgehen, wenn viele Eindrücke auf sie einprasseln. Dafür kann sie sich viele Dinge leicht merken. Was einmal in ihr Gehirn gelangt, kommt so schnell nicht mehr heraus. Dann gibt es aber wieder Phasen, in denen sie ungeduldig ist und schnell wütend wird.Smilla ist die Protagonistin in dem Buch „Smillas Gespür für Käfer“. Die Autorin beschreibt in einer Geschichte, wie Anderssein auch anders sein kann. Das Buch kann - neben der spannenden Geschichte um den Abriss eines besonderen Hauses - Kindern und Eltern Mut machen und den Umgang mit neurodiversen Menschen verständlicher machen und verbessern.

Vorurteile abbauen

Anstatt neurotypische Funktionen als "normal" und alles andere als "abweichend" zu betrachten, fördert das Konzept der Neurodiversität das Verständnis, dass diese Unterschiede Teil der menschlichen Vielfalt sind. Außerdem soll mit Hilfe der Begrifflichkeit der Neurodiversität ein inklusives Umfeld geschaffen werden, das die individuellen Stärken und Herausforderungen anerkennt und wertschätzt, anstatt diese "heilen" zu wollen. Es geht darum, das Bewusstsein zu schärfen und Vorurteile abzubauen, um Menschen mit neurologischen Unterschieden ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Der Begriff Neurodiversität hat sich 2011 nach einem an der Syracuse Universität in New York gehaltenen „National Symposium on Neurodiversity" mit der heutigen Bedeutung etabliert und verbreitet. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Autismusbewegung und gewann schon in den 1990er Jahren an Bedeutung.

Jedes zwanzigste Kind ist neurodivergent

„Laut aktuellen Studien werden mittlerweile fünf Prozent der Kinder als neurodivergent eingestuft, und die Zahlen wachsen regelmäßig“, erklärt Autorin Louise Gooding in ihrem Buch „Wundervoll anders“.

Auch viele Erwachsene sind betroffen, was sich immer stärker auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht. „Insgesamt lebt etwa jede fünfte Person in Deutschland mit irgendeiner Form von Neurodivergenz“, erklärt Judith Rommel. Deshalb wird der Hinweis auf Neurodiversität besonders im Bildungsbereich und in der Arbeitswelt zunehmend als wertvoll angesehen.

Alle Menschen denken und fühlen anders und „jedes Gehirn ist anders“, heißt es im Buch „Wundervoll anders“ von Louise Gooding. „Und das ist auch gut so“, ergänzt die Autorin.

Aber trotzdem haben es Menschen, die in ihrem Verhalten, Denken und Fühlen von der sogenannten „Norm“ abweichen, oft schwer. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass jeder Mensch einzigartig denkt und fühlt.

Was können Eltern tun?

Viel Geduld ist nicht nur bei Eltern, sondern oft in der ganzen Familie gefragt, wenn ein Mitglied neurodivers ist. Alltägliche Abläufe und der Umgang mit besonderen Situationen müssen oft anders geplant werden. Eltern sollten versuchen, die besonderen Stärken und Bedürfnisse des Kindes optimal zu fördern. „Gemeinsam mit dem Kind können sie Wege finden und erarbeiten, um die Herausforderungen zu bewältigen, ein harmonisches Familienleben zu gestalten und das Kind in der Entwicklung zu stärken“, empfiehlt die Childhood Akademie für Neurodiversität.

Durch frühzeitige Diagnostik, individuelle Förderpläne, passende therapeutische Ansätze (zum Beispiel Verhaltens- oder Sprachtherapie, Lerntherapie, Ergotherapie) und schulische Ressourcen könne erheblich geholfen werden.

Wer sich Sorgen macht, ob sein Kind neurodiverse Züge hat und eine Einschätzung braucht, sollte sich eine Abklärung durch Fachleute wie Kinderärzte, Neuropädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Schulpsychologie einholen, empfiehlt Autorin Gooding. Bei entsprechender Einschätzung können Therapien helfen, aber auch Selbsthilfegruppen der Familie Unterstützung bieten. Viele Menschen leben mit Neurodiversität, ohne es zu wissen. Die AOK erklärt, dass sie häufig noch unerkannt bleibt, was Folgen für Schule, Beruf und andere Lebensbereiche mit sich bringt.

Selbsthilfegruppen

  • Die Selbsthilfegruppe vom Verein Wohnzimmer Neurodivers ist für alle Familien, in der neurodivergente Menschen leben, egal ob bedingt durch Autismus, ADHS oder andere Besonderheiten. Das Treffen findet einmal im Monat, Samstag oder Sonntag, 11 Uhr in Zuffenhausen, statt. Infos über KISS Stuttgart, kiss-stuttgart.de
  • Der Wohnzimmer Neurodivers e.V. ist eine bundesweite Selbsthilfeorganisation und Community rund um die Themen Neurodiversität, ADHS und Autismus. wohnzimmer-neurodivers.de
  • Ebenfalls gibt es an jedem 3. Samstag im Monat von der ADHS-Selbsthilfegruppe in Stuttgart einen „Spaziergang Neurodivers“ am Bopserwald für alle neurodivergenten Menschen sowie auch Kinder und ihre Angehörigen. Infos unter adhs-selbsthilfe-stuttgart.de

Buchtipps:

Geschichten für Kinder

„Smillas Gespür für Käfer“ von Anne Jaspersen. Geschichte über Freundschaft, Käfer und einem Ort zum Wohlfühlen. Gelingt es Smilla, ihren Rückzugsort zu retten? Denn diesen Rückzugsort braucht sie. Das Buch zeigt, welche Strategien Smilla entwickelt, mit ihrem Anderssein umzugehen.
Anne Jaspersen, Smillas Gespür für Käfer, Tulipan-Verlag, 2025, ab 10 Jahre, 17 Euro, ISBN 978-3-86429-647-5

„Linus liebt Licht“ von Anna Mendel und Jasmin Sturm. Ein liebe­volles Pappbilderbuch über das Stimming (selbst­-
stimulierendes Verhalten, häufig bei Menschen im Autismus-Spektrum). Linus zeigt, wie wichtig Stim­ming in seinem Alltag ist und warum es ihm hilft, sich wohlzufühlen. Autorin und Illustratorin sind beide Mütter eines autistischen Kindes.
Anna Mendel und Jasmin Sturm, Linus liebt Licht, Brimborium Verlag, 2023, ab 3 Jahre, 12,90 Euro, ISBN 978-3-949615-02-3

 

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© Dorling Kindersley Verlag

Sachbücher für Kinder

„Wundervoll anders“ von Louise Gooding. Die Autorin Louise Gooding, die selbst ADHS hat, erklärt, wie Gehirne funk­tio­nieren und was „neuro­typisch“ und „neuro­divers“ bedeutet. Sie zeigt: Jedes Gehirn ist einzigartig. Vorgestellt werden Dia­gno­sen wie Autismus, ADS/ADHS, Dyspraxie, Legasthenie, Dyskal­kulie, Angst, Depression, Zwangs­störungen und vieles mehr. Das Buch ist leicht verständ­lich aufgebaut und auch für Kinder ab 7 Jahren geeignet.
Louise Gooding, Wundervoll anders, Dorling Kindersley Verlag, 2025, ab 7 Jahre, 14,95 Euro, ISBN 978-3-8310-5110-6