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Mit Kind und Kegel durch die Autostadt

01.06.2019

Die Überschrift klingt anklagend. Dabei packe ich meine Kinder aus Bequemlichkeit oft genug ins Auto. In regelmäßigen Abständen holt mich das schlechte Gewissen ein. Gibt es nicht andere, klimafreundlichere Alternativen, die vielleicht nicht ganz so bequem, aber vorbildlich sind? Wie ist der Stand der Dinge, wie könnte man etwas verändern?

Stuttgart ist nicht gerade ein Paradebeispiel einer Stadt, wo sich Jung und Alt gefahrlos bewegen können. Es mangelt an sicheren Rad- und Fußwegen, den Autos wird oftmals Vorrang eingeräumt. Allein im letzten dreiviertel Jahr gab es drei schwere Unfälle mit Kleinkindern. Autofahrer haben Kinder auf vermeintlich sicheren Wegen wie dem Zebrastreifen oder Gehweg überfahren. Problematisch ist, dass der Straßenrand oftmals zugeparkt und der Verkehr gerade für Kinder unübersichtlich ist. Tatsächlich parken viele Autos 23 Stunden am Tag, stellen ein Sicherheitsrisiko dar und blockieren dabei öffentlichen Raum, der anderweitig genutzt werden könnte.

Christian Hochfeld, Geschäftsführer der Initiative Agora Verkehrswende, gab in einem Interview in der Zeit online 2016 zu bedenken, dass man nur jeden dritten PKW brauchen würde, würden alle auf Car Sharing zurückgreifen. Eine echte Alternative für alle? Es gibt Gründe, warum dies für einige Eltern keine Option ist. Kindersitze gibt es zwar beim lokalen Anbieter Stadtmobil, allerdings nicht an allen Standorten. Unter Umständen ist man bis zum nächsten Kindersitz 30 Minuten oder mehr unterwegs – alleine geht das, aber mit mehreren Kleinkindern und Gepäck sind spontane Fahrten kompliziert.

Für manche Eltern ist die Gefahr im Straßenverkehr der Grund, ihre Kinder regelmäßig mit dem „Elterntaxi“ in die Schule zu fahren, obwohl man weiß, dass waghalsig wendende, überall parkende Eltern das „Problem“ eher verschlimmern.

Bei alldem kann man schon einmal ins Schwärmen geraten, wenn man von Vorzeigestädten wie Kopenhagen liest, wo mehr als die Hälfte der Pendler mit dem Rad fährt, weil die Radwege sicherer sind. In Holland und Dänemark trage kaum ein Fahrradfahrer einen Helm, gleichzeitig sei das Risiko, als Radler tödlich zu verunglücken, laut einem Spiegel online Artikel von 2014 so niedrig wie nirgends sonst auf der Welt. Aber nicht nur für Radler und Fußgänger besteht Optimierungsbedarf.

Odyssee mit dem Kinderwagen

Auch in punkto Barrierefreiheit oder „Freie Fahrt“ für Kinderwagen kann Stuttgart noch aufholen. Das beste Beispiel dafür ist der neue Stuttgarter Bahnhof. Die unterirdischen Gleise werden vor allem denjenigen das Leben schwer machen, die auf den Aufzug angewiesen sind: Rollstuhlfahrer, Menschen mit Rollator, Radfahrer oder Eltern mit Kinderwagen.

Der VVS hat auf seiner App zwar die Option eingeräumt, defekte Fahrstühle umgehend zu melden. Trotzdem bleiben diese problematisch. Mit Kinderwagen oder Rollstuhl umzusteigen, ist zudem selbst bei funktionierenden Aufzügen eine Odyssee. Man denke nur an den Hauptbahnhof oder den Charlottenplatz. Auch bei der Planung neuer oder zukünftiger Projekte gibt es immer wieder Probleme. So werden beispielsweise die  Bahnsteige im neu entstehenden Bahnhof S21 so steil gebaut sein, dass sie für Rollstuhlfahrer und Kinderwagen ein echtes Sicherheitsrisiko darstellen, wie Kritiker meinen. Martin Thronberens, Pressesprecher der Abtei­lung Kommunikation der Stadt Stuttgart, erklärt auf Nachfrage allerdings, dass die Gleisneigung erneut überprüft und für zulässig erklärt wurde. Der Praxistest dazu steht noch aus. Im Bonatzbau sei immerhin ein Fahrradparkhaus mit mehreren hundert Stellplätzen vorgesehen. Es bleibt jedoch der Eindruck zurück, dass es Rollstuhlfahrer, Radfahrer und Fußgänger in Stuttgart nicht gerade einfach haben.

Kann man da nichts machen?

Schon seit Jahrzehnten setzt sich der ADFC für eine Neuverteilung des öffentlichen Raumes und eine sichere Radinfrastruktur ein, von der gerade die schwächeren Verkehrsteilnehmer profitieren sollen. Inzwischen ist die Szene deutlich größer geworden, es bildeten sich beispielsweise die Initiativen Zweirad und Radentscheid, welche dieselben Ziele verfolgen.

Arne Jungjohann, einer der Aktiven beim Radentscheid, sagt dazu: „Wir brauchen in Stuttgart endlich breite Geh- und Radwege, auf denen sich alle frei und sicher bewegen können - egal ob sie alt oder jung, langsam oder sportlich vorankommen wollen.“ Beide Initiativen rufen zusammen mit dem ADFC nicht nur zur Critical Mass (CM) auf, wo Radfahrer durch die City fahren und auf ihren Platz im Straßenverkehr hinweisen, sondern seit 13. April auch zur „Kidical Mass“, die sich unter anderem für sichere Radwege für Kinder einsetzt.

Fahrradfreundliche Stadt

Der Radentscheid hat im Übrigen mehr als 35.000 Unterschriften für ein fahrradfreundliches Stuttgart gesammelt. Das Bürgerbegehren wurde zwar rechtlich für ungültig erklärt. Doch der Gemeinderat hat angesichts der vielen Unterschriften den Beschluss getroffen, dass Stuttgart eine Fahrradstadt werden soll. Unterstützt wird das Vorhaben von den Grünen, der SPD, der Fraktionsgemeinschaft SÖS-Linke-PlusS und den Stadtisten. Das Ergebnis der Abstimmung war knapp: 29 Mitglieder im Gemeinderat stimmten dafür, 25 dagegen. „Es bleibt nur zu hoffen, dass der neugewählte Gemeinderat den Beschluss weiterverfolgt“, gibt Frank Zühlke vom ADFC zu bedenken.

Benedikt Glitz vom Radentscheid teilt diese Einschätzung und fordert, dass genügend Personal zur Umsetzung des Beschlusses abgestellt wird. Im vergangenen Jahr seien nur ein Bruchteil der Gelder für den Radverkehr überhaupt ausgegeben worden, da das Personal anderweitig beschäftigt gewesen sei. Glitz bekräftigt aber, dass der Radentscheid weiterhin Druck ausüben werde, damit die Stadt die Forderungen auch wirklich umsetzt.

Er sieht unter vielen anderen Punkten ein besonderes Gefahrenpotential in den sogenannten Radschutzstreifen, auch Suggestivstreifen genannt. Diese sind durch eine gestrichelte Linie gekennzeichnet, oftmals sehr schmal und im Bereich von aufgehenden Autotüren angelegt. Stattdessen plädieren der Radentscheid und Zweirad unter anderem für sichere, geschützte Radwege, wo diese baulich möglich sind.

Martin Körner von der SPD, der mit seiner Fraktion den Beschluss im Gemeinderat unterstützt, versucht alle Verkehrsteilnehmer, auch die Autofahrer, mit zu berücksichtigen. Er schlägt Quartiersgaragen in den Stadtteilen vor, so dass weniger öffentlicher Raum durch die Autos genommen wird. Darüber hinaus wolle die SPD erreichen, dass kurzfristig mindestens das School-Abo auf 365 Euro reduziert werde, langfristig nach dem Wiener Vorbild sogar das Jahresticket für alle.

Anna Christmann, Direktkandidatin im Bundestag für den Wahlkreis 259 Stuttgart II, ist gegenwärtig schon viel mit ihrer Tochter mit dem Rad unterwegs. Aber auch sie sieht den großen Nachholbedarf und garantiert, dass sich die Grünen für die Umsetzung des Beschlusses einsetzen werden. Ihr liegt auch besonders am Herzen, dass die Kombination von ÖPNV und Fahrrad verbessert wird, da das einige Bürger zum Umdenken motivieren könnte.

Den Bürgern deutlich machen, dass es auch Alternativen zum Auto gibt, möchte auch Alexander Kotz, Vorsitzender der CDU-Gemeinderatsfraktion. Er legt aber Wert darauf, dass der Autoverkehr gleichberechtigt erhalten bleibt und somit jeder die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, welches Verkehrsmittel er wählt.

Kinderkarawane

Hannah Schneider ist Dozentin an der Akademie der Künste und hat einen kleinen Sohn. Im letzten August rief sie zu einer Karawane der Kinderwagen nach dem Vorbild der CM auf. Sie wolle in erster Linie auf ein Problem hinweisen, das vielleicht offensichtlich sei, über das aber doch erstaunlich selten in der Öffentlichkeit diskutiert werde. An einigen Orten habe man es mit Kinderwagen, und ganz besonders auch mit Rollstuhl, wirklich schwer. Man denke nur an die vielen Staffeln, schmalen Bürgersteige, die zugeparkten Straßen oder kaputte Aufzüge.

Diskussionen zum Thema Mobilität werden häufig sehr kontrovers diskutiert. Das musste auch Hannah Schneider erleben, die wegen ihrer „Demonstration“ zum Teil heftig kritisiert wurde.

Die Meinungen darüber, wie dringend Veränderungen in Stuttgart sind und wie umfassend diese sein sollen, sind offenbar verschieden. Aber es tut sich etwas! Das Auto öfter mal stehen zu lassen und auf andere Verkehrsmittel umzusteigen, ist vielleicht nicht immer bequem, aber vernünftig.