Satt und sauber anstatt frühkindliche Bildung

Kitastrophe Stuttgart ist eine Initiative von Eltern und KitaBeschäftigten, die sich seit März 2023 gemeinsam für eine bessere Kinderbetreuung einsetzt und einen Systemwandel der Politik fordert. Wir haben mit Annika Fischer aus dem Orgateam der Kitastrophe über die aktuellen Herausforderungen im Kita-Alltag gesprochen.

Frau Fischer, was sind die aktuellen Herausforderungen für Eltern und Kitapersonal im Kita-Alltag?

Für Eltern führt die ständige und oft sehr kurzfristig bekannt gegebene Notbetreuung zu einem Spagat zwischen Beruf und Familie, der kaum zu bewältigen ist. Eltern müssen Arbeitszeiten reduzieren oder können nicht zur Arbeit erscheinen. Arbeitgeber haben dafür in den meisten Fällen kein Verständnis und im Extremfall haben Eltern aufgrund der Situation bereits ihre Jobs verloren.

Die pädagogischen Fachkräfte haben das Gefühl, den Kindern nicht mehr gerecht zu werden. Sie wissen nicht, wo ihnen der Kopf steht. Pädagogisch wertvolle Arbeit kann unter den aktuellen Rahmenbedingungen kaum geleistet werden, was sehr belastend ist. Auch das Misstrauen seitens der Eltern ist für die Fachkräfte oft sehr belastend, indem diese ihnen beispielsweise unterstellen, „krank zu machen“ oder ihre Kinder einfach trotz Notbetreuung in die Kita bringen nach dem Motto „Schaut, wie ihr klarkommt!“

Auch die Kita-Leitungen haben keinen einfachen Job. Für sie ist vor allem die ständige Personalsuche eine echte Herausforderung.

Trifft Ilse Wehrmanns Buchtitel „Kita-Kollaps“ also zu?

Aus unserer Sicht befinden wir uns bereits mitten im Kollaps. Das System ist nur noch nicht vollständig zusammengebrochen, weil Eltern und Kita-Mitarbeiter die Probleme irgendwie abpuffern.

Ilse Wehrmann erwähnt in ihrem Buch „Kita-Kollaps“ mehrfach, dass Kinder der deutschen Politik nicht wichtig sind. Warum schenken Politikerinnen und Politiker in Deutschland dem Bereich frühkindliche Bildung aus Sicht der Kitastrophe so wenig Beachtung, obwohl hier der Grundstein für die weitere Bildungsbiografie und für die Zukunft Deutschlands gelegt wird?

Wie Ilse Wehrmann auch schon schreibt, haben Kinder keine Lobby. Die Politik steht nicht unter Druck, etwas zu verändern. Aus Sicht der Politik kosten Kinder den Staat erst mal nur Geld. Mehr Kitaplätze zu schaffen, indem man die Personalvorgaben herunterschraubt und ungelernte Mitarbeiter einstellt, zeigt, dass es nur um die Quantität geht, nach dem Motto „Schaut her, wir haben neue Kitaplätze geschaffen.“ Die Qualität frühkindlicher Bildung ist der Politik nicht wichtig.

Zur Person

Bild zeigt die junge, blonde Frau Annika Fischer.

Annika Fischer ist Inklusions- und Heilpädagogin und arbeitet als pädagogische Fachkraft im U3-Bereich in einer Kita in Stuttgart. Sie ist Teil des Orga- und des Presseteams der Kitastrophe.

Sie engagiert sich in der Kitastrophe, weil sie es wichtig findet, dass Familien, Fachkräfte und alle anderen Betroffenen gemeinsam für eine Verbesserung der aktuellen Situation kämpfen, um perspektivisch wieder eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung und eine verlässliche Betreuung für unsere Kinder zu erreichen.

Buchtipp

Buchcover des Buches "Der Kita-Kollaps" von Ilse Wehrmann

Die DiplomSozialpädagogin und Erzieherin Ilse Wehrmann analysiert in ihrem Buch die Ursachen der aktuellen Kita-Krise und appelliert eindrücklich an die Politik, die Bildung der Kleinsten zur obersten gesellschaftlichen Aufgabe zu machen. Mit konstruktiven Vorschlägen fordert sie die Politik zum Handeln auf und macht deutlich, warum Deutschland nur eine Zukunft hat, wenn Kinder von Anfang an qualitativ hochwertige Bildung und Förderung erfahren.

Ilse Wehrmann: Der Kita-Kollaps – Warum Deutschland endlich auf frühe Bildung setzen muss! Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 2023 256 Seiten ISBN 978-3-451-60150-7 22,- Euro

Wer trägt aus Sicht der Kitastrophe die Verantwortung für die aktuellen Zustände?

Aus unserer Sicht sind Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen verantwortlich. Sie schieben Verantwortlichkeiten hin und her und priorisieren Gelder falsch. Insgesamt werden Kinder und Familien in Deutschland nicht als wertvolle Ressource gesehen und nicht wertgeschätzt. Die Politik baut darauf, dass Eltern immer irgendwie klarkommen.

Wie positioniert sich die Kitastrophe zu dem Bestreben, Standards zu senken, beispielsweise indem Kitas von Personalvorgaben abweichen? Was hat dies für Konsequenzen?

Die Qualität sinkt weiter und weiter. Die pure Aufbewahrung frustriert Fachkräfte. Sie orientieren sich beruflich um, zumal beispielsweie Ergotherapeuten oder Heilpädagogen in anderen Bereichen besser bezahlt werden und insgesamt bessere Rahmenbedingungen vorfinden.

Ilse Wehrmann geht in ihrem Buch auf die Notwendigkeit eines nationalen Bildungsgipfels ein, um eine bundesweite Bildungsreform einzuleiten. Was könnte ein nationaler Bildungsgipfel bewirken?

Langfristig halten wir solch einen Gipfel für eine sinnvolle Sache. Allerdings kostet die Realisierung eines solchen Gipfels viel Bürokratie und Zeitaufwand. Diese Zeit haben wir momentan nicht, wir brauchen schnelle Lösungen.

Welche konkreten Aktionen sind von Seiten der Kitastrophe-Initiative derzeit geplant?

Wir treffen uns regelmäßig am ersten Montag im Monat im Weltcafé zu einem Stammtisch, zu dem wir alle Interessierten herzlich einladen. Bei Interesse gerne auf unserer Instagramseite @kitastrophe0711 schauen. Weitere Infos gibt es auf unserer Website kitastrophe-stuttgart.de. Dort findet man interessante Fakten rund um den Kita-Notstand und die neusten Infos zu geplanten Aktionen und Treffen.

Unsere nächste Aktion wird eine Postkartenaktion sein, die ab dem 9. September 2024 startet und bei der wir wieder jede Menge interessierte und vom Kita-System und den Notständen betroffene Personen brauchen, die mit uns gemeinsam etwas verändern wollen. Bei Interesse gerne eine E-Mail an: info@kitastrophe-stuttgart.de oder über die Whatsapp-Gruppe. Den Beitrittslink findet man über Instagram.

Insgesamt bemerken wir, dass vielen Eltern und Fachkräften mittlerweile die Kraft fehlt, sich zu engagieren. Seit Entstehen der Kitastrophe hat sich an der Kernthematik leider nichts geändert, aber die gegenseitige Unterstützung aller Betroffenen und die Erkenntnis, dass es ein Miteinander braucht und es nichts bringt, wenn jeder für sich gefrustet ist, treibt uns weiter an. Wir sind am lautesten, wenn wir gemeinsam auf das Problem aufmerksam machen.