Auf dem Bild ist eine Gruppe Kinder mit der Kunstpädagogin in rosa Tshirt und Jeans zu sehen. Sie erklärt den ca fünf jährigen Kindern ein Gemälde.
©Dr.KatharinaSchneider PädagogischeHochschuleLudwigsburg

Kindliche Auseinandersetzung mit Kunst

01.10.2019

Ein Museumswärter, der die Nase rümpft, weil sich eine Horde Kinder vor einem Bild tummelt? Das war einmal. Heute bieten viele Kulturinstitutionen Angebote für Kinder an. Luftballon sprach mit Dr. Katharina Schneider von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg darüber, wie Kinder erste ästhetische Erfahrungen machen und warum sie so wichtig für sie sind.

Frau Dr. Schneider, Sie forschen und lehren unter anderem zur ästhetischen Erfahrung in der frühen Kindheit. Wann beginnt denn das erste eigene gestalterische Tun?

Das beginnt schon früh. Wenn ein Baby etwa mit Brei oder Speichelresten schmiert, erlebt es sich als Verursacher einer sichtbaren Spur. Das ist ein einschneidendes Erlebnis für ein Kind. Es ist seine erste graphische Äußerung, bei der es sich Bewegungsmuster aneignet.

Wie beginnen Kinder, ästhetische Urteile zu bilden?

Bei der Herausbildung eines ästhetischen Urteils spielen wir als Erwachsene eine ganz entscheidende Rolle. Kinder brauchen den Austausch mit uns, um eigene Urteile zu bilden. Sie wollen gemeinsam mit uns verhandeln, was schön ist und was nicht. Wenn ein Kind im Kindergarten zum Beispiel eine Katze malt und mit dem Ergebnis unzufrieden ist, kann ich natürlich hingehen und sagen: „Wieso denn, die ist doch schön!“. Das ist auch in Ordnung so. Aber es ist wichtig, das Kind auch ernst zu nehmen und aufzugreifen, dass es hier vielleicht an einer Stelle ist, wo das zeichnerische Repertoire noch nicht dafür reicht, das auszudrücken, was es ausdrücken will.

Setzt sich das Urteil „schön“ dann für das Kind so zusammen, dass es ihm gelingt, etwas so darzustellen, wie es sich das vorgenommen hat?

Aus der Forschung wissen wir, dass es ein Dreiecksgespann zwischen der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Darstellung gibt. Wenn ich bei dem Beispiel mit der Katze bleibe, muss ich also erst einmal genau beobachten, wie eine Katze aussieht. Danach bilde ich mir kognitiv eine Vorstellung von einer Katze. Und dann erst kann ich das Tier auch darstellen. Wenn ein Kind also ein Problem hat, etwas darzustellen, kann es sein, dass es an dieser Stelle zwar schon eine genaue Vorstellung von der Katze hat, aber noch nicht über das nötige Darstellungswissen verfügt.

Das ist der entscheidende Moment, an dem ich als Erwachsener eingreifen und fragen kann: Was stört dich denn? Ist das Fell vielleicht noch nicht so, wie du es dir vorgestellt hast? Dann lass uns doch mal gemeinsam anschauen, wie so ein Fell von einer Katze eigentlich aussieht.

Schärft die Kunst auf diese Weise den Blick eines Kindes auf die Welt?

Grundsätzlich würde ich erst einmal sagen: Kinder machen keine Kunst, das machen die Erwachsenen. Kinder drücken sich aus und setzen sich so mit der Welt auseinander. Dabei bildet ihre eigene Lebenswelt die Brücke zur kulturellen Welt. Entdecken sie nach ihrer Erfahrung mit dem Katzenbild zum Beispiel im Museum Renoirs Bild „Mademoiselle Julie Manet mit Katze“, finden sie darin bestimmt einiges, was sie schon über Katzen wissen.

Gleichzeitig haben sie jetzt aber auch einen ganz eigenen Blick auf die Art, wie Renoir das Fell der Katze gemalt hat, denn genau das war ihnen ja bei ihrem eigenen Bild so schwer gefallen. Die Auseinandersetzung mit Kunst kann also dazu beitragen, dass Kinder ihr eigenes bildnerisches Repertoire erweitern und unterstützt sie dabei, Urteile zu fällen.

Hilft sie ihnen auch, die Bilderflut unserer digitalisierten Welt besser einordnen zu können?

Gerade in unserer digitalisierten Welt ist es wichtig, dass Kinder lernen, Bilder zu verstehen. Sie müssen einordnen können, dass man Inhalte unterschiedlich darstellen kann. Dass es eine bestimmte Bildgrammatik gibt, bei der sich jemand genau überlegt hat, wie er das Bild kompositorisch zusammensetzt, welche Farben er nimmt, welche Motive er darstellt und welche Symbole er verwendet. Wenn Kinder nachvollziehen können, warum sich Menschen auf eine bestimmte Art und Weise ausdrücken und das dann auch mit ihrem eigenen Handeln in Verbindung bringen können, bekommen sie durch die Kunst einen anderen Blick auf die Welt.

Und auch auf sich selbst, oder?

Ja. Kunst kann uns dafür sensibilisieren, was ein Bild mit uns macht. Ob es mich anspricht oder nicht, ob es positive oder negative Gefühle in mir auslöst. Es ist wichtig, einen Transfer von dem Kunstwerk auf sein eigenes Ich herzustellen. Bei Kindern im Kindergartenalter sollte das auf gestalterische Weise passieren. Deshalb bieten ja heute viele Museen Kindern die Möglichkeit, im Anschluss an den Rundgang selbst kreativ zu werden und das, was sie wahrgenommen haben, direkt kreativ umzusetzen.

©Dr.KatharinaSchneider PädagogischeHochschuleLudwigsburg
Mitmachprogramme für Kinder sind in ­vielen kulturellen Institutionen mittlerweile an der Tagesordnung. Ist aus der früheren Hochkultur eine Kultur der Teilhabe ­geworden?

Früher galten für Kinder im Museum ja vor allem drei Regeln: Nicht anfassen, nicht rennen, nicht laut sein. Mittlerweile gibt es vermehrt Konzepte, die nicht die reine Reflexion durch Betrachtung favorisieren, sondern das Gesehene auch in gestalterisches Handeln überführen möchten. Es macht für Kinder einen großen Reiz aus, wenn sie selbst handeln und gestalten können, etwas anfassen und vielleicht auch mal mit Farben malen können, die sie zuhause nicht haben. Auf diese Weise bindet man Kinder schon früh in das Kommunalwesen und in soziale Strukturen ein und lässt sie das Museum als etwas Aktives und Positives wahrnehmen, nicht nur als Ort, wo ich hingehe, wenn’s regnet.

Gilt das auch schon für ganz kleine Kinder?

Kinder sind ja grundsätzlich erst einmal aufgeschlossen für alles. Je früher wir anfangen, die Begeisterung von Kindern an unterschiedlichen Darstellungen aufzugreifen, desto besser. Es sollte allerdings beim Museumsbesuch nicht darum gehen, einen Vortrag über das Bild zu halten. Stattdessen sollte man offen ins Gespräch gehen und fragen: Welche Idee habt ihr denn zu dem Bild?

Da kommen vermutlich viele Deutungsmöglichkeiten zutage.

Und das ist eine wichtige Erfahrung für Kinder. Sie merken: Kann man überhaupt von richtig und falsch sprechen, wenn es so viele unterschiedliche Deutungen gibt? Gibt es nicht eher viele verschiedene Betrachtungsweisen?

Auf diese Deutungsmöglichkeiten hinzuweisen, ist unsere Aufgabe als Erwachsene. Wenn wir zu viel belehren, trauen sich Kinder nicht mehr, kritisch auf die Dinge zu gucken. Sie lernen, dass es ein „Richtig“ und ein „Falsch“ gibt und dass die Erwachsenen vorgeben, welches von beiden zutrifft. Doch der zentrale Kern von Bildung ist es ja, die Dinge kritisch zu betrachten. Kinder sollen nicht erfahren: Schön ist das, was die Erwachsenen mir sagen. Sondern lernen, dass es für dieses Urteil Kriterien gibt, die wir gemeinsam verhandeln.

Sind die Auseinandersetzung mit Kunst und das eigene Gestalten auch wertvolle Ergänzungen zum rein kognitiven Lernen?

Auf jeden Fall. Im Gegensatz zu etwa mathematischen Bildungsprozessen verlaufen gestalterische und ästhetische Prozesse ja nicht linear. Und das ist für das Kind, genauso wie für die Eltern oder für die pädagogische Fachkraft, erst einmal eine Herausforderung. Aber auszuhalten, dass man bei einem gestalterischen Prozess vielleicht auch mal an seine Grenzen kommt und scheitert, kann wichtig sein für das weitere Leben.

Weil man lernt, nicht gleich aufzugeben?

Ja, man muss dranbleiben und das ist eine wichtige Erfahrung in einer Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspannen immer kürzer werden – vom „Schnell, schnell“ im Kindergarten bis zur heutigen WhatsApp-Generation. Gestalterische Prozesse sind anstrengend. Und wenn sie nicht klappen, ist das frustrierend. Aber umgekehrt heißt das dann auch: Ich habe das geschafft! Diese Selbstwirksamkeit zu erleben, ist wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Sie knüpft an die Erfahrung des Babys an, das eine sichtbare Spur im Brei zieht. Wie das Baby erkennen sich auch Kinder und Jugendliche bei der kreativen Arbeit als Verursacher einer Spur und erleben sich dadurch selbst.

Zur Person

Dr. Katharina Schneider lehrt an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg am Institut für Kunst, Musik und Sport in der Abteilung Kunst/Frühe Bildung. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind u.a. Spielforschung, ästhetische Erfahrung in früher Kindheit, ästhetische Bildung, Kunstrezeption mit Kindergartenkindern und Ethnographie der Kindheit.