Es ist einer der häufigsten Vorwürfe, mit denen sich Jugendliche konfrontiert sehen: Sie seien wenig belastbar, würden sich wenig engagieren und die ganze Zeit auf einen Bildschirm schauen. Junge Angestellte werden angeklagt, in erster Linie auf eine gute Work-Life-Balance zu achten und wenig Leistungsbereitschaft zu zeigen. Kommen da vielleicht Ideen wie der „Neue Wehrdienst“ oder ein sozialer Pflichtdienst gerade recht, um die Jugend davon abzuhalten, sich nach dem Schulabschluss zu lange auszuruhen?

Chill statt Drill?

Sind Jugendliche heutzutage gegenüber vorausgegangenen Generationen wirklich bequemer und weniger leistungsbereit? Die Soziologin Prof. Dr. Susanne Vogl vom Institut für Sozialforschung der Universität Stuttgart, die sich seit Jahren mit Jugendforschung beschäftigt, meint, dass eine umfassende Beschreibung einer Generation oberflächlich bleiben muss. Die Menschen, die einer Generation zugerechnet werden, seien sehr unterschiedlich und eine zunehmende Individualisierung halte in der Gesellschaft Einzug.

Gerade dieselbe müsse man als Herausforderung für junge Menschen sehen. Diesen fehle es an Orientierung, da gesellschaftlich verankerte Normen wie Heirat oder traditionelle Familienrollen längst in den Hintergrund getreten seien. „Die sozialen Medien spielen bei der Identitätsfindung junger Menschen eine zentrale Rolle.

Anders als früher finden sie dort viele Gruppierungen oder Idole, an denen sie sich orientieren können. Das Ergebnis ist, dass wir es mit vielen Milieus innerhalb einer Generation zu tun haben“, so Vogl. „Ländergrenzen sind im Internet aufgehoben. Auch die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gemeinschaft verliert also an Wichtigkeit. Das kann für Verunsicherung sorgen.“

Weniger belastbar?

Blickt man auf die Ergebnisse der Jugendstudie Baden-Württemberg, die Susanne Vogl zusammen mit André Bächtiger, Kristina Kögler und Christine Sälzer leitet und die vom Kultusministerium finanziert wird, erkennt man, dass die psychische Belastung Jugendlicher in den letzten Jahren tatsächlich deutlich zugenommen hat.

„Wenn man die momentane Polykrise mit dem Klimawandel, dem Krieg in der Ukraine und in Gaza, der Inflation und auch der sozialen Ungleichheit in unserer Gesellschaft betrachtet, ist es kein Wunder,“ so Vogl. Zudem müsse man noch beachten, dass die Corona-Krise mit zeitweise wenigen sozialen Beziehungen bei vielen nachwirke. „Alles mögliche akkumuliert sich. Da ist der Vorwurf der geringen Belastbarkeit ungerecht“, positioniert sich die Soziologin. „Außerdem gehen junge Leute im Vergleich zu anderen Generationen offener mit dem Thema psychische Gesundheit um. Nur weil sie über Herausforderungen sprechen, heißt es nicht, dass sie geringer belastbar sind.“

Resilienz sei das wichtigste Gut, dass die „Jugend von heute“ brauche, um derzeitigen und zukünftigen Krisen zu begegnen. Aber wie solle sich dieselbe einstellen, wenn man unter permanentem Druck und Unsicherheit leidet?

Wir, die „Hafermilchgesellschaft“

„Wir sind eine wirklich gefühlige Gesellschaft geworden … so eine Hafermilchgesellschaft, so eine Guavendicksaft-Truppe, die wirklich die ganze Zeit auf der Suche nach der idealen Work-Life-Balance ist.“

Mit dieser Aussage geriet Fernsehmoderator Markus Lanz vor nicht allzu langer Zeit in Misskredit, weil man ihm unterstellte, die gegenwärtige Jugend angegriffen zu haben. In einer Podcast-Folge von „Lanz & Precht“ stellt er jedoch klar, dass er sich selbst als Teil dieser „Hafermilchgesellschaft“ sehe. Wir seien alle mehr auf Selbstfindung und Work-Life-Balance bedacht, Prioritäten würden sich von der Arbeit weg auf andere Themen verschieben. Warum sollte es also die Jugend anders machen?  Und ist es denn nicht eigentlich in Zeiten der Polykrise und im Sinne der Nachhaltigkeit entscheidend, dass sich unsere gesamte Gesellschaft wandelt und auf Wesentliches besinnt?

Dieser Meinung ist unter manch anderen der Publizist und Autor Sascha Lobo. Derselbe veröffentlichte im letzten Jahr im Spiegel einen polemischen, aber sehr erhellenden und unterhaltsamen Artikel. Er war eine Reaktion auf die aktuelle Shell-Jugendstudie und das gerade erschienene Buch von Thomas Gottschalk, der mehr als deutlich macht, dass er die gegenwärtige Jugend nicht verstehen würde.

Lobo macht sich darin unter anderem über die übertriebene Bindung von manch Älteren an die Arbeit lustig. Er unterstellt denselben sogar ein „Stockholm-Syndrom der Lohnarbeit“. Manche Jugendkritiker seien mit sich selbst nicht im Reinen und würden aus Neid missbilligend auf junge Leute schauen, weil sie selbst nicht so viele Freiheiten gehabt hätten.

Rückbesinnung auf das soziale Miteinander

Wenn wir ehrlich in die Zukunft blicken, können wir erahnen, dass wirtschaftlicher Erfolg bald noch weniger die Grundlage unseres Daseins sein kann als es gegenwärtig der Fall ist. Nachhaltigkeit bedeutet auch, sich auf zwischenmenschliche Beziehungen zu besinnen und wieder zum eigentlichen Kern des Lebens zurückzufinden.

Die Pädagogin und Bestseller-Autorin Susanne Mierau fordert in ihrem Buch „Füreinander Sorgen – Warum unsere Gesellschaft ein neues Miteinander braucht“ genau das. In einem Ted-Talk stellt sie heraus, wie wichtig soziale Bindungen für den Bestand unserer Gesellschaft sind. Schließlich seien sie es, die unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden erhalten haben.

Verkürzt fordert sie in diesem Kontext angenehmere Rahmenbedingungen für Familien, dass dieselben die Bindungsfähigkeit ihrer Kinder stärken können, und die gleichmäßigere Verteilung von Sorgearbeit auf die Geschlechter. Zudem müsse diese an sich unter anderem durch höhere Gehälter in unserer Gesellschaft anders gewichtet werden.

Auch Politökonomin und Nachhaltigkeitsforscherin Maja Göpel hat jüngst ein Buch über Werte geschrieben, weil sie der Meinung ist, dass wir unsere Wertvorstellungen grundsätzlich hinterfragen und neu ausrichten müssen, um die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen der Gegenwart zu bewältigen.

Ein Gesellschaftsjahr für alle?

Immer wieder fordern Politiker oder Verbände ein Gesellschaftsjahr. Unter anderem plädieren sie dafür, um das soziale Miteinander zu stärken. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier möchte die ganze Gesellschaft in die Pflicht nehmen. Jeder solle einmal im Leben eine „Soziale Pflichtzeit“ ableisten. Die CDU hat ein „verpflichtendes Gesellschaftsjahr“ in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen. Dieses soll allerdings nur junge Leute nach der Schule oder der Ausbildung treffen.

Darüber hinaus gibt es weitere Vorschläge von Organisationen wie dem Roten Kreuz oder den Johannitern, die den Freiwilligendienst durch finanzielle Unterstützung gestärkt haben wollen. Der Ökonom Marcel Fratzscher und der Soziologe Klaus Hurrelmann stellten vor nicht allzu langer Zeit einen Pflichtdienst für Rentner in den Raum. Die genaue Ausgestaltung ist bei allen Modellen noch offen. Generell merkt man in der Debatte, dass es kritisch gesehen wird, nur junge Menschen zu verpflichten.

Freiwilligkeit oder Zwang?

Loren Tomšić, Schülerin einer zehnten Klasse am Hölderlin-Gymnasium in Stuttgart, möchte sich ihre Entscheidungsfreiheit ungern nehmen lassen. „Ich finde es nicht gerecht, wenn eine ältere Politikergeneration etwas für die Jugend entscheidet und sich selbst nicht einbezieht“, argumentiert sie. Wenn man beachtet, dass das aktuelle Durchschnittsalter der Mitglieder des Bundestages bei 47 Jahren liegt, kann man einen solchen Kritikpunkt gut nachvollziehen. „Ich glaube nicht, dass ein Zwang in diesem Bereich gut wäre“, schließt sich die Soziologin Susanne Vogl an. Schließlich habe die bereits genannte Jugendstudie gezeigt, dass fast 60 Prozent der Jugendlichen kein oder wenig Vertrauen in Politiker und Politikerinnen haben. „Wenn nun über die Köpfe der Jugendlichen hinweg ein Pflichtjahr entschieden wird, wäre das nicht gut.“

Was das Pflichtjahr betrifft, so ist die isolierte Einführung eher unwahrscheinlich, weil die Grundgesetzänderung eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag verlangen würde.

Wahrscheinlicher ist die Einführung zusammen mit der Wehrpflicht, falls der „Neue Wehrdienst“, den das Bundeskabinett im August beschlossen hat, nicht die erhofften Freiwilligen bringt. Außenminister Johann Wadephul (CDU) plädiert mit seinen Parteigenossen schon jetzt für eine Wehrpflicht. Ihre Einführung könnte tatsächlich durch eine einfache Mehrheit erfolgen, weil sie im Jahr 2011 nur ausgesetzt wurde. In Kombination mit derselben könnte auch ein soziales Pflichtjahr für Wehrdienstverweigerer eingeführt werden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer bezeichnete in einem Gespräch mit Markus Lanz seine Generation als „die Fettaugen auf der Suppe, die die jüngere Generation auslöffeln müsse.“

So sei sie doch verantwortlich für Umweltkatastrophen und Wirtschaftskrisen. Umso wichtiger wäre es, im Ernstfall die gesamte Gesellschaft in die Pflicht zu nehmen und nicht der Jugend noch mehr aufzubürden. Auch hinsichtlich der Wehrpflicht ist es sicherlich ein guter Ansatz, zunächst auf Freiwilligkeit zu setzen.