20 Jahre JES: Brigitte Dethier über Erfolge, Herausforderungen und die Zukunft des Kinder- und Jugendtheaters in Stuttgart

01.08.2022

Ende August 2022 endet die Intendanz von Brigitte Dethier am Jungen Ensemble Stuttgart, dem „JES“. Sie hat das renommierte Kinder- und Jugendtheater in der Eberhardstraße vor 20 Jahren aufgebaut und damit für die Kinder-und Jugendkultur in der Landeshauptstadt einen Platz geschaffen, der bundesweit seinesgleichen sucht. In die Zeit von Dethiers Intendanz fallen zahlreiche Preise, die zeigen, welch hohe künstlerische Qualität im JES geleistet und mit welcher Liebe zum Detail an diesem Theater gearbeitet wird. Wir haben mit der beeindruckenden Theaterfrau über ihre Zeit in Stuttgart gesprochen.

Frau Dethier, als ich Sie 2004 zum Start des JES im Kulturareal Unterm Turm zum ersten Mal befragt habe, meinten Sie „das JES ist mein drittes Kind“. Wie geht es diesem, jetzt nach 20 Jahren?

Um im Bild zu bleiben: Ich denke, es ist gut groß geworden, hat schnell laufen gelernt, obwohl die Rahmenbedingen zu Beginn nicht einfach waren und hat in der Pubertät nicht besonders gebockt, sondern sich gut leiten lassen. Jetzt mit 20 Jahren ist das JES ein wichtiger Ort der Kinder- und Jugendkultur, für den uns andere Städte beneiden. Ich bin wirklich sehr stolz, was mein Team und ich in den vergangenen Jahren auf die Beine gestellt und geleistet haben. Vor allem, wenn man sich nochmal vor Augen führt, wie wir damals gestartet sind.

Sie meinen die Bauverzögerungen?

Auch. Da wir 2002 unverschuldet, aufgrund der verzögerten Bauarbeiten des Theaterareals Unterm Turm, nicht mit einer regulären Spielzeit am Spielort Eberhardstraße starten konnten, wurde uns angedroht, Gelder zu kürzen. So sind wir damals erst einmal als mobiles Theater gestartet. 

Im Rückblick war das vielleicht ein Glück, da wir ja mit allem bei null anfangen mussten und durch die mobile Arbeit zumindest schon einmal erste Kontakte zu Kindergärten und Schulen herstellen konnten. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt ja keine einzige Adresskartei. Mit dem Umzug und offiziellen Start des JES im Mai 2004 sind wir damals voll durchgestartet und haben auch gleich zu Beginn das Internationale Theaterfestival „Schöne Aussicht“ auf den Weg gebracht, das seither alle zwei Jahre am JES stattfindet.

Zur Person

© Jan Merkle

Brigitte Dethier, 1959 in Haslach im Schwarzwald geboren, hat zwei erwachsene Söhne. Seit 2002 war die Intendantin und Regisseurin am Jungen Ensemble Stuttgart sowie künstlerische Leiterin des Festivals „Schöne Aussicht“.

Seit Jahren setzt sie sich in internationalen Verbänden und Organisationen für die Förderung des professionellen Kinder- und Jugendtheaters ein: unter anderem als erste Vorsitzende der deutschen ASSITEJ (International Association of Theatre for Children and Young People). 2014 wurde ihr der Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg für die Gründung und erfolgreiche Arbeit am JES verliehen.

Für ihre Inszenierung „Noch 5 Minuten“ erhielt sie 2009, gemeinsam mit dem belgischen Choreographen Ives Thuwis-De Leeuw, den Deutschen Theaterpreis DER FAUST. Als Dozentin für Schauspiel, Regie und Theatermanagement arbeitet sie an den Hochschulen in Stuttgart, Hamburg und München.

Sie wollten im JES immer Geschichten erzählen, die herausfordern. Theater nach dem Motto - „Na ja, für Kinder reichts, seien Ihnen ein Graus“, sagten Sie mir damals.

Mein Ziel war es immer, qualitatives Theater für und mit jungen Menschen zu machen, verbunden mit einem klaren Bekenntnis zu Kunst und Kultur für junges Publikum. Wenn ich auf meine verschiedenen Stationen an unterschiedlichen Kinder- und Jugendtheatern zurückblicke, war in Stuttgart vieles möglich. Aber in jeder Spielzeit gab es natürlich auch etwas, bei dem man daneben lag. Gerade bei Stückentwicklungen kann es passieren, dass man schnell merkt, dass man altersmäßig zu niedrig oder zu hoch ansetzt. Dann gilt es, in den Diskurs zu gehen und gegebenenfalls nachzubessern oder zu verändern.

Das heißt, das JES ist am Publikum gewachsen und umgekehrt?

Ich glaube schon. Ich hoffe sehr, dass die Leute aus den letzten 20 Jahren etwas mitgenommen haben und vielleicht in der Betrachtung anderer Theaterstücke für Kinder und Jugendliche merken, was sie an diesem Haus haben.

Sie haben sich mit der Zeit auch ganz neuen Genres, nämlich Theater für die Allerkleinsten geöffnet. Am Anfang waren Sie davon nicht so überzeugt?

Ja, das stimmt. Allerdings haben wir durch eine längere Kooperation mit dem Kindertheater Teatro Testoni Ragazzi in Bologna, die im Bereich Theater für die Allerkleinsten weltweit führend sind und mit denen wir das Stück „Uno a Uno“ entwickelt haben, gesehen, dass die theatrale Form auch für diese Altersgruppe der Ein- bis Eineinhalbjährigen funktioniert. Gerade Kinder, die von zuhause vielleicht nicht so viele kulturelle Anregungen bekommen, werden von diesen Formaten besonders angesprochen. Seitdem gibt es im Repertoire des JES auch immer ein Angebot für diese Altersgruppe. Zurzeit ist es das Stück „Unsere große Welt“.

Wie kam es zur Liebe zum Theater und insbesondere zum Kinder- und Jugendtheater?

Wie so oft, war in dieser Entwicklung viel Zufall im Spiel. Ich bin als Kind nie mit Kinder- und Jugendtheater in Berührung gekommen. Mein erster richtiger Kontakt zur Theaterwelt war, als mich meine Eltern im Alter von etwa elf Jahren zusammen mit meiner Schwester alleine ins Operettenhaus in Hamburg in eine Aufführung von „My Fair Lady“ gesetzt haben. Ich weiß es noch ganz genau und werde es nie vergessen. Wir hatten einen Balkonplatz und alles war so groß und so mächtig. Perücken, Puder und vieles mehr, was mich damals schwer beeindruckt hat.

Ab da war das Theatervirus gesetzt und bald danach habe ich, ganz klassisch, in meiner Schule in Bensheim in der Theater AG angefangen. Nach der Schule hat sich aus dieser AG eine freie Theatergruppe formiert, in der ich zehn Jahre, immer parallel zum Studium mitgespielt habe. Es gab nach dem Abitur aber immer eine Berufsentscheidung für mich: „Ich werde nie Theater professionell machen“. Denn das Theatermachen oder am Theater tätig sein, bedeutet, dass man viel umziehen muss und das viele Umziehen meiner Eltern hat mir als Kind sehr weh getan.

Es kam dann aber anders?

Ja (lacht). Die Entscheidung fürs Kinder-und Jugendtheater hat sich dann über verschiedene Schritte und vor allem durch Begegnungen während meines Studiums der Theaterwissenschaften und der Neueren Deutschen Literaturwissenschaften in Frankfurt ergeben. Nach dem Studium ging es aufgrund des Kontakts zu Jürgen Flügge vom Theater der Jugend zunächst als Regieassistentin nach München, später dann als Leiterin der Kinder und Jugendtheater nach Esslingen, Tübingen und Mannheim. Dann gab es die Möglichkeit, nach Stuttgart zu gehen, mit einer längerfristigen Perspektive und für meine Familie und mich die Möglichkeit, an einem Ort zu bleiben.

Also nur private Gründe, die fürs Kinder- und Jugendtheater sprachen?

Die Entscheidung für das Publikum „Kinder und Jugendliche“ entstand neben diesen privaten Aspekten auch aus dem Gefühl heraus, dass es total Sinn macht, für diese Altersgruppe Theater zu machen. Denn junge Menschen anzusprechen, die noch auf ihrem Weg ins Leben sind, die Fragen haben und Antworten suchen, ist ein sehr spannender und wichtiger Prozess.

Daher sind auch gerade Gespräche mit dem Publikum am Kinder- und Jugendtheater sehr wichtig. Es ist aus meiner Sicht aber auch eine Sparte mit weniger Eitelkeiten und einem kollegialeren Umgang miteinander. Dafür hat man den Schmerz, dass man von der Öffentlichkeit und der Fachwelt nicht so beachtet und ernst genommen wird.

Deswegen das Engagement, sich politisch in dieser Frage einzubringen?

Richtig. Ich engagiere mich seit Jahren in der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche, ASSITEJ, um mehr Anerkennung für das Genre Kinder- und Jugendtheater insgesamt, aber auch in der Fachwelt zu bekommen und um die Arbeitsbedingungen für die dort Tätigen zu verbessern. So werden Menschen, die am Kinder- und Jugendtheater arbeiten, immer noch schlechter bezahlt als anderswo. Und es ist immer noch Usus, dass man Schauspielabsolventinnen und- absolventen vorm Kinder- und Jugendtheater warnt, da damit die weitere Karriere beendet sei! Dabei speist sich das Bild derjenigen, die das sagen, oft aus eigenen, antiquierten Kindertheatererinnerungen. Viele wissen gar nicht, was moderne Kinder und Jugendtheater machen.

Gibt es Highlights in Ihrer Intendanz, auf die Sie besonders stolz sind?

Es gibt etwas, das erfüllt mich mit ganz, ganz großer Freude: wie viele Menschen wir mit unserer Arbeit und dem Platz JES auf den Weg gebracht haben. Das ist mir noch einmal besonders aufgefallen, als wir die Nachschau für unsere Chronik gemacht haben. Da stehen Namen bei den Spielclubs, die haben heute ihren festen Platz an renommierten Theatern oder sind auch in ganz anderen Bereichen gut vorangekommen. Wir bekommen so viele berührende Rückmeldungen von Ehemaligen, die beschreiben, wie wertschätzend sie ihre Zeit am JES erlebt haben. Das ist unglaublich schön! Und natürlich hoffe ich, dass wir bei vielen Kindern mit unserer Arbeit den Theatervirus gesetzt haben!

Und auf was hätten Sie in dieser Zeit getrost verzichten können?

Was mich wirklich aufregt, ist der abnehmende Kulturjournalismus. Wenn ich mir Presseordner vom Anfang meiner Zeit im JES anschaue, hatten wir manchmal sechs Kritiken bei Premieren. Heutzutage kommt es vor, dass es keine einzige mehr gibt. Dabei brauchen wir solche Kritiken, allein schon für die künstlerische Auseinandersetzung. Ich will Kritiken lesen, auch die schlechten!

Durch immer weniger eigenständige Verlage und Kürzungen der Blattstärken haben wir es mit einer Verarmung der Presselandschaft insgesamt und Streichung der Kulturseiten insbesondere zu tun. Das ist trostlos und alle Theaterschaffenden leiden darunter. Und es kommt dann vor, das eine dpa-Meldung, zur Verleihung des Mülheimer Kinder-Stücke-Preis, den wir soeben mit unserer Aufführung „Oma Monika“ gewonnen haben, von der ortsansässigen Presse einfach mal nicht gebracht wird, was man sich bei einer gleichwertigen Meldung im Erwachsenentheater niemals erlauben würde!

Gibt es etwas, was Sie im Rückblick anders machen würden?

Als das JES gegründet wurde, hat der damalige Finanzbürgermeister verhindert, dass in unseren Arbeitsverträgen Tarifsteigerungen enthalten sind. Er hat damals gesagt „Das kommt da nicht rein“. Und es stand die Frage im Raum, ob wir das JES, wenn ich dem nicht zustimme, vielleicht nicht eröffnen können. Dazu würde ich mich heute nicht mehr erpressen lassen!

Wie sind jetzt Ihre Pläne, wenn Sie im Sommer das JES verlassen?

Im Januar waren die Neuwahlen der ASSITEJ und ich werde für die nächsten drei Jahre die erste Vorsitzende bleiben und mich weiter ehrenamtlich für die Belange der Kinder- und Jugendtheater engagieren. Und ich habe mich entschieden, als freie Regisseurin zu arbeiten. Ich werde sicher in kein Loch fallen (lacht), da ich schon sehr viele Anfragen habe, die ich gar nicht alle annehmen kann.

Brigitte Dethier als Oma Monika (© Alex Wunsch)

Ich denke, dass ich erst mit der Zeit spüren werde, dass auch etwas von mir abfallen wird, denn die Personalverantwortung und der ganze administrative Bereich fallen jetzt weg und darauf freue ich mich auch. Und: ich werde ja weiter als Oma Monika im JES als Gastschauspielerin zu sehen sein. Dann klingele ich dort an der Tür und sage: hier ist die Gitti für die Oma Monika!

Liebe Frau Dethier, wir danken Ihnen für das Gespräch und Ihre tolle Theaterarbeit hier in Stuttgart! Wir Luftballoner wünschen Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute und freuen uns, Sie ab und an in Stuttgart wiederzusehen.

Euer Interesse am JES ist geweckt? Dann klickt Euch doch rein unter www.jes-stuttgart.de