Ein dunkelblondes, kleines Kind in einem rosa Strickpullover kniet vor einem Spiegel und sieht sein Spiegelbild an.
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Die Entdeckung des „Ich“

01.01.2020

Babys entwickeln sich in einem atemberaubenden Tempo. Irgendwann zwischen zwei und drei Jahren wird sich das Kind bewusst, dass es ein eigenständiges Wesen ist. Bis dahin macht es riesige emotionale Entwicklungsschritte. Doch jedes Kind macht das auf seine eigene Weise.

Ach, dein Kind lächelt noch nicht? …plappert noch nicht? …schlägt andere Kinder? Auch wenn man nach außen hin abwiegelt, sitzt der Stachel doch tief in der Elternbrust. Und ihre Angst, dass etwas mit dem Verhalten ihres Kindes nicht stimmen könnte, überschattet manch unbeschwerte Kindheit. Wie entlastend ist da die Devise von der Unterschiedlichkeit in der kindlichen Entwicklung des Schweizer Kinderarztes Remo Largo. „Die kindliche Entwicklung verläuft zugleich einheitlich und vielfältig“, sagt er. Jedes Kind macht zwar im Wesentlichen die gleichen Phasen durch. Wann und wie genau, ist jedoch von Kind zu Kind verschieden.

Einheitlich und vielfältig

Viele kleine Schritte führen zur Entdeckung des eigenen Ichs, hat Largo beobachtet. Bevor es aber soweit ist, braucht das Baby eine sichere Basis. Was wir heute wissen ist, dass die sichere Bindung Grundlage für eine gute emotionale Ich-Entwicklung ist. Erst wenn dies verlässlich befriedigt wird, kann das Kind gut selbstständig werden und loslassen. Obwohl es schwer messbar ist, spricht sogar immer mehr dafür, dass schon ein ungeborenes Baby das Bedürfnis nach Bindung verspürt. Wenn es dann auf der Welt ist, braucht Baby eine Bezugsperson, die zuverlässig und feinfühlig auf seine Bedürfnisse eingeht. In den ersten drei Monaten ist das Kleine nämlich damit beschäftigt, sich auf sein neues Leben außerhalb des Mutterbauches einzustellen. Da draußen fühlt es die unmittelbare Berührung mit der Mutter nicht mehr, es muss plötzlich mit der Schwerkraft zurechtkommen, den Tag- Nacht-Rhythmus erlernen, Atmung und Verdauung umstellen. Das ist unglaublich viel zu lernen.

Sichere Bindung ist Basis für alles

In den allermeisten Fällen ist nach der Geburt die Mama die erste Bezugsperson für das Baby. Mama ist meist einfach diejenige, die als erste zur Stelle ist. Sie tröstet, wenn das Baby in einer fremden Umgebung verunsichert ist, Angst hat, krank oder müde ist. Durch Körperkontakt und Blickkontakt wendet sie sich ihm zu und zeigt ihm, dass sie seine Bedürfnisse wahrnimmt. Sie erkennt auch, wenn es das Köpfchen wegdreht und in Ruhe gelassen werden will. Auch Papa nimmt in dieser Zeit eine wichtige Stellung als Bezugsperson ein. Kaum auf der Welt, kommuniziert Baby also schon. Es kann zwar noch nicht sprechen, beherrscht aber meisterhaft die Körpersprache. Es ahmt Mimik, Mundbewegungen und Laute von Mama und Papa nach. Die Eltern wiederum ahmen das Baby nach, das geschieht ganz instinktiv. Dem Baby gefällt das und es wird vertraut mit den Bezugspersonen. So entsteht eine sichere Bindung.

Sicher gebundene Kinder, wie es in der psychologischen Fachsprache heißt, sind Kinder, die mit einem Urvertrauen ausgestattet sind. „Sie sind später widerstandsfähiger gegenüber Belastungen, können Probleme besser bewältigen und verhalten sich weniger aggressiv. Sie können sich gut alleine beschäftigen und im Spiel vertiefen. Dazu kommt, dass sie besser lernen und kreativer sind und zeitweilige Trennungen gut verkraften“, erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Thomas Mantel. Kinder, die dieses Urvertrauen nicht aufbauen konnten, erleben regelrechten Stress in solchen Momenten. Ihr Körper und ihre Seele sind so damit beschäftigt, die für sie belastenden Situationen auszuhalten, dass sie sich kaum auf anderes einlassen können. In den ersten zwei Jahren ist die Bindung an die Eltern am stärksten. Danach beginnt es sich schon langsam abzulösen.

Fremdeln und Entdeckerdrang

Irgendwann nachdem das Kind ein halbes Jahr alt ist, geschieht etwas Neues. Plötzlich gibt es in der Babywelt Menschen, die es kennt und mag, und andere, die ihm Angst machen – es beginnt zu fremdeln. Gleichzeitig erwacht aber auch sein Entdeckerdrang, denn die Umgebung ist so faszinierend. Einerseits treibt die Neugier, andererseits bremst die Trennungsangst. Was nun? Eltern und Bezugspersonen sind jetzt der sichere Ort, von dem aus es die fremde, aber höchst spannende neue Welt entdecken will. Auch um diese Zeit fängt das Baby an, seinen Körper wahrzunehmen. Es betastet sich von den Zehenspitzen bis zum Kopf. Es erkennt auch, dass seine Handlungen etwas auslösen und fühlt sich mächtig: Wenn ich am Wasserhahn drehe, spritzt Wasser heraus, und wenn ich auf den Lichtschalter drücke, wird es dunkel, hell, dunkel, hell...

Im Spiegel das Selbst erkennen

Zwischen 18 und 24 Monaten erkennt sich ein Kind plötzlich selbst im Spiegel. In vielen Beobachtungen wurde dieser wichtige Schritt der Selbstwahrnehmung schon in den 1970er Jahren genauestens untersucht. Jetzt beginnt es ganz allmählich zu begreifen, dass sich andere Personen von ihm unterscheiden. So richtig verstehen, kann es das aber erst gegen Ende des vierten Lebensjahres. Dann haben Kinder die Fähigkeit der Empathie, also sich in andere hineinzuversetzen. Der Fachbegriff dazu heißt „Theory of mind“.

Wenn ein Dreijähriger auf dem Spielplatz andere Kinder schlägt, ist er also nicht zwangsläufig unerzogen. Sondern er kennt das Konzept, „so fühlen sich die anderen, wenn ich ihnen weh tue“, eben noch nicht. Wenn es das aber noch nicht nachvollziehen kann, nützt doch auch Schimpfen nichts, mögen sich Eltern fragen. Auch wenn Ermahnungen in diesem Alter noch nicht ihren eigentlichen Sinn erfüllen, nämlich dem Kind zu vermitteln, wie sich der andere fühlt, sollen Eltern das Verhalten nicht einfach gewähren lassen, empfiehlt Largo. Eine Möglichkeit ist dann, das Kind aus der Situation zu nehmen, damit es sich beruhigen kann.

Trotzalter

Nach zwei Jahren, wenn der Ablöseprozess von den Eltern langsam beginnt, wird es für beide manchmal schwierig. Einerseits braucht das Kind nach wie vor die uneingeschränkte emotionale Sicherheit der Eltern, andererseits will es sich aber nun immer mehr durchsetzen. Das Trotzalter führt unweigerlich zu Konflikten. „Selber“ und „nein“ sind jetzt wichtige Begriffe. Eltern haben jetzt den schwierigen Balanceakt, was sie gewähren lassen und wo sie Grenzen setzen. Ein Eltern-Nein fällt dem Kind umso leichter zu akzeptieren, sagt Largo, wenn die Beziehung zum Kind in diesem Moment stimmig ist, es also spürt, dass die Eltern ihm grundsätzlich Vertrauen schenken und sein Bedürfnis nach Geborgenheit erfüllt ist. In Konfliktsituationen kann es hilfreich sein, das Kind zwischen zwei Möglichkeiten wählen zu lassen à la „möchtest du mir beim Straße überqueren die linke oder die rechte Hand geben?“.  

Durch Nachahmen zum Ich

Zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr brauchen Kinder viele Anregungen. „Wir spielen Einkaufen“, Kinder lieben es, Erwachsenen bei ihren Tätigkeiten zuzuschauen und sie nachzuahmen. Durch gemeinsames Spielen mit anderen Kindern, in Spielgruppen und Kita und Erlebnisse mit Erwachsenen, Nachbarn und Verwandten lernt das Kind soziale Regeln, zu kommunizieren und seine Stellung in der Gruppe zu finden. Mit etwa vier Jahren haben Kinder schon eine bemerkenswerte soziale Kompetenz. Sie können im Spiel und in Familiensituationen die Bedürfnisse anderer Personen erkennen. Und die meisten Kinder sind sprachlich dann so kompetent, dass sie ihre Gefühle, Wünsche und Vorstellungen schon ganz gut ausdrücken können.

All diese Schritte sind Meilensteine in der Entwicklung eines Kindes. Wohlgemerkt, jedes Kind durchläuft sie in seiner eigenen Geschwindigkeit und auf seine Weise. „Meine wohl größte Einsicht ist: Jedes Kind ist einzigartig“, sagt der emeritierte Professor für Kinderheilkunde am Zürcher Kinderspital, Remo H. Largo. Sein Standardwerk „Babyjahre“ wurde mehr als vierhunderttausendmal verkauft, in viele Sprachen übersetzt und vor kurzem wurde es in einer vollkommen überarbeiteten Ausgabe herausgegeben. Es ist nahezu in jedem Familienhaushalt unentbehrlich. Das hat einen Grund: Anders als manche Ratgeber, die Eltern gerne bevormunden, was genau sie zu tun haben, damit das Kind keine Trotzanfälle bekommt und freundlich zu seinen Geschwistern ist, hat Largo erkannt, dass eben jedes Kind anders ist. Und diese Erkenntnis ist beruhigend für Eltern.

Das Bild zeigt das vorwiegend weiße Cover des Buches „Babyjahre – Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren“, an dessen unteren Rand eine Mutter und ihr Baby abgebildet sind.

Buchtipp

Remo H. Largo, Babyjahre – Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren, vollständig überarbeitete Neuausgabe, Piper Taschenbuch 2019, ISBN 978-3-492-05826-1, 16 Euro