Ein Mädchen hält sich die Ohren zu und kneift die Augen zusammen. An den Armen hat sie Armbänder mit dem Autismus Symbol.
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Die Autismus-Spektrum-Störung hat viele Facetten

01.03.2025

Weltweit sei etwa ein Prozent der Kinder von Autismus betroffen, vermu­tet die Weltgesundheits­orga­nisation (WHO). Eine Studie aus den USA legt nahe, dass die Zahl der dia­gnos­tizierten Fälle von Autismus seit Jahren ansteigt. Woran liegt das? Wie macht sich Autismus bemerkbar? Und wie kann man damit umgehen, wenn das eigene Kind eine Entwicklungsstörung aus dem Autismus-Spektrum hat?

Manche von uns haben eine bestimmte Vorstellung von einem Menschen mit einer Autismus Spektrum Störung (ASS). So weiß man, dass solche Mitmenschen Schwierigkeiten haben, Blickkontakt zu halten, auf Gefühle des Gegenübers adäquat zu reagieren und uneindeutige oder ironische Aussagen zu verstehen. Manchmal wird auch eine Inselbegabung als Standard angenommen.

In der aktuellen Version der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11), die Mitgliedsstaaten der WHO zur Diagnosestellung verwenden, wird von einer ASS gesprochen und nicht mehr zwischen Varianten des Autismus (zum Beispiel Asperger-Syndrom oder Frühkindlicher Autismus) unterschieden. Damit soll vor allem deutlich gemacht werden, dass Übergänge fließend sind und die Symptome von Autismus ganz verschieden sein können.

Ein Herz aus vier Puzzleteilen in den Farben Rot, gelb, grün, blau

Autismus-Spektrum

Lena Kühl bekam im Jahr 2008 im Alter von neunzehn Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom. Sie hatte sich bis dahin durch die Realschule gekämpft und eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin gemacht. In der Absicht, Medizin studieren zu wollen, machte sie später in einem dreiviertel Jahr sogar das Abitur nach. Weil der Notendurchschnitt als solcher nicht ausreichend war, kam es nicht zum Medizinstudium, sondern zur Ausbildung als Ergotherapeutin. Kühl erzählt im Gespräch, wie Schule und Ausbildung für sie nicht immer einfach gewesen seien, sie aber trotzdem einen Weg für sich gefunden habe. Zudem könne sie die Arbeit mit ihren Patienten durchaus genießen, selbst wenn sie wisse, dass sie „Baustellen“ in der sozialen Interaktion habe.

Dass sich nicht alle mit einer Diagnose aus dem Autismus Spektrum so durchs Leben schlagen können, wird klar, wenn sie von ihren Patienten berichtet. Sie habe es manchmal mit Kindern zu tun, die ein halbes Jahr brauchen würden, bis man mit ihnen überhaupt arbeiten könne. Einmal habe sie monatelang gebraucht, um überhaupt das Interesse bei einem Kind zu wecken. Ein anderes habe lange nicht akzeptieren können, dass sie als Therapeutin den Behandlungsraum auswählt und sich verweigert. Andere könnten kaum sprechen, sondern nur lautieren, seien kognitiv beeinträchtigt und würden sich kaum für ihre Umwelt interessieren.

Zunahme an Autismus-Diagnosen

Nach einer Studie aus den USA, die 2023 im Fachblatt „Pediatrics“ erschienen ist, werden weltweit immer mehr ASS gemeldet, vor allem unter Kindern. In der Metropole New York sei die Diagnose um fünfhundert Prozent gestiegen. Der Neurowissenschaftler Ludger Tebartz van Elst, der 2023 die dritte Auflage seiner wissenschaftlichen Abhandlung über „Autismus, ADHS und Tics“ veröffentlicht hat, geht auf diese Entwicklung ein. Er führt als Ursache für diese Entwicklung das höhere Bewusstsein für Autismus an und die seit etwa zehn Jahren erweiterten Diagnosekriterien.

Die höhere Sensibilität für ASS und auch das Wissen bezüglich der Vielfalt der Symptome würden eine Zunahme an Diagnosen erklären. Es gebe aber auch Hinweise darauf, dass die Zunahme auch an Umweltfaktoren, Ernährungsgewohnheiten oder Medikamentenkonsum liegen könne. Die Ursachen des Autismus seien bislang nicht ausreichend bekannt. Als erwiesen könne gelten, dass die Genetik eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung einer ASS spiele. Ebenso sei inzwischen widerlegt, dass Impfungen einen Zusammenhang mit Autismus zeigen oder etwa eine lieblose Erziehung eine Ursache sein könne.

Auf die Frage, warum bei Frau Kühl der Autismus erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurde, sagt sie selbst: „Das Asperger-Syndrom wurde erst in den Neunzigern in die ICD-10, Vorgänger der ICD-11, aufgenommen. Man wusste damals noch nicht viel darüber und die Diagnose wurde selten gestellt. Schon als ich zwei Jahre alt war, merkten meine Eltern, dass mit mir etwas nicht stimmte. Obwohl wir immer wieder bei Ärzten und Therapeuten waren, dauerte es ganze siebzehn Jahre bis zur Diagnose.“

Man geht heute davon aus, dass es gerade unter Frauen eine große Dunkelziffer an Autistinnen gibt, die früher nicht erkannt wurden, zumal auch gerade Frauen klassische Symptome gut zu verbergen lernen. Tebartz van Elst hält in seiner Abhandlung fest, dass oftmals eher eine Depression, Angsterkrankung oder Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und übersehen wird, dass dahinter eine ASS als Basisstörung versteckt ist. Wird Autismus schon im Kindesalter diagnostiziert, liegt der Vorteil darin, dass man womöglich die Entwicklung einer anderen Störung verhindern, Hilfe­stellungen anbieten und geeignete Therapieformen finden kann.

Symptome einer ASS

„Ich war jetzt nie so ganz urtypisch autistisch unterwegs, also nicht so, wie die Ärzte sich das vorgestellt haben. Die Interaktion hat nicht zuverlässig funktioniert. Der Blickkontakt war schwierig. Meine Mutter erinnert sich an eine Episode, als ich zwei Jahre alt war, die sie heute viel besser einordnen kann. Wir standen im Garten, ich stand recht dicht vor ihr und habe in ihre Richtung geschaut. Sie hat mich aufgefordert, ein Herbstblatt aufzuheben. Ich habe durch sie durchgeschaut und einfach gar nicht reagiert.“ Sie ist in Schule und Kindergarten nie durch unangenehmes Verhalten aufgefallen.

Solche Sequenzen, in denen sie aus Gründen der Reizüberflutung aber völlig wegdriftete, habe es bis ins frühe Erwachsenenalter des Öfteren gegeben. Ihre Mitschüler hätten stets ein Problem damit gehabt, weil sie nicht gewusst hätten, wie sie darauf reagieren sollten. Überhaupt sei es ihr am schwersten gefallen, all die Reize zu verarbeiten, denen sie in der Schule ausgesetzt gewesen sei. Beispielsweise habe sie sich einmal an einer flackernden Neonröhre gestört, die kaum ein Klassenkamerad oder Lehrer bemerkt hatte und für sie selbst sei das „wie Disco“ gewesen.

„Ich habe auch Kinder in der Therapie, die sagen, sie könnten den Strom in der Wand hören oder die den Klassenraum nicht mehr betreten wollen, weil vor zwei Wochen darin jemand Wurst gegessen hat und sie den Wurstgeruch noch in der Nase hätten“, so Kühl. Mit der Überempfindlichkeit gegenüber Reizen hätten viele Menschen im ASS zu kämpfen.

Sie sei in der Schule grundsätzlich Außenseiterin gewesen, sei aufgrund ihrer Andersartigkeit viel gehänselt worden und habe dann in der vierten Klasse sogar Suizidgedanken gehabt. Es habe ihr ungemein geholfen, mit den Unter­rich­ten­den über ihre Probleme zu sprechen, was sie erst später erkannt habe. Daher würde sie auch heute raten, sofern ein autistisches Kind die Regelschule besucht, klärende Gespräche mit den Lehrern zu führen. „Was genau einem Kind hilft und welche Hilfe überhaupt erwünscht ist, ist ganz unterschiedlich. Ich habe irgendwann gemerkt, und damit arbeite ich auch in der Therapie, dass mich ein Gewichtskissen ungemein beruhigt. Dazu hat es mir immer ganz gut getan, hinten im Klassenraum zu sitzen, weil ich sonst immer wieder das Bedürfnis hatte, mich umzudrehen.

Manche im Autismus-Spektrum haben Schwierigkeiten mit irregulären Abläufen. Je nachdem kann es wichtig sein, sich nach einer Schulbegleitung umzusehen und sich Ergo- oder Psychotherapie verschreiben zu lassen, wo man gerade Alltagspraktisches üben und trainieren kann“, berichtet Kühl aus Erfahrung. Sie selbst habe sich ganz unwohl gefühlt, wenn einmal eine Schulstunde entfallen sei und sie dann nichts mit dieser Zeit anzufangen gewusst habe. Ein Mädchen aus der Ergotherapie habe es nicht geschafft, sich einen Klebstoff auszuleihen, weil es gelernt habe, dass man etwas Ausgeliehenes so zurückgeben muss, wie man es bekommen hat. Stattdessen sei das Kind im laufenden Betrieb nach Hause gelaufen.

Weiterführende Informationen & Dokumentationen

  • Lena Kühl hat eine Homepage, auf der sie auf ihre Veranstaltungen zum Thema Autismus verweist. Auf der Seite sind auch Links zu einem Podcast zum Autismus ihres Partners Philipp Kühl: erwachseneautisten.de
  • In der ARD-Mediathek findet man die Doku „Familienleben mit Autismus“, in der eine Mutter über das Leben mit zwei autistischen Kindern im Alter von acht und zehn Jahren berichtet.
  • Sehr interessant für Autisten im Erwachsenen­alter ist die Quarks-Dokumentation „Autismus – Diagnose mit 35“.
  • Hilfe und vielfältige Beratung bietet der Verein „autismus stuttgart e.V.“, autismusstuttgart.de
  • Die Autorin und Ärztin Christine Preissmann ist Asper­ger-Autistin und schreibt über sämtliche Sta­tio­nen im Leben von Autis­ten und ange­mes­sene Thera­pie- und Unter­stützungs­­­maßnahmen: 
    Preissmann, Christine: Mit Autismus leben. Stuttgart 2020 (Klett Cotta),  ISBN 978-3-608-86127-3, EUR 22,00,- 

 

 

  • Sehr wissenschaftlich, aber sehr informativ:
    Tebartz van Elst, Ludger: Autismus, ADHS und Tics. Zwischen Norm­variante, Per­sön­lichkeits­störung und neu­ro­psychia­trischer Krank­heit. Stuttgart 2023 (Kohl­hammer), ISBN 978-3-17-041158-6, EUR 36,00,-