Traurig oder schon depressiv?

Immer öfter leiden auch Kinder und Jugendliche bereits unter Depressionen. Wie erkenne ich als Elternteil, ob mein Kind einfach nur traurig oder ernsthaft erkrankt ist? Und wie kann ich meinem Kind in dieser Situation helfen?

Wir haben mit Dr. med. Björn Nolting, Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Esslingen, über diese und weitere Fragen gesprochen.

Woran erkenne ich, ob mein Kind einfach nur traurig ist oder unter einer Depression leidet?

Wenn man traurig ist, hat dies einen Grund. Traurigkeit ist demnach ein Gefühl, das sich auf etwas Konkretes bezieht, beispielsweise wenn das Handy kaputt ist oder der Freund sich getrennt hat. Im Gegensatz dazu sind Depressionen wenig greifbar. Dinge, die bislang Spaß gemacht haben, machen auf einmal keinen Spaß mehr. Betroffene ziehen sich aus Kontakten zurück und sind schwermütig.

Auch Appetitlosigkeit und ein Leistungsknick in der Schule können Anzeichen sein. Manche Betroffene reagieren auch grundsätzlich gereizt oder aggressiv, sie empfinden alles als blöd. In extremen Fällen haben Betroffene auch lebensmüde Gedanken. Sie wollen nicht mehr leben oder verletzen sich selbst.

Zur Person

Dr. med. Björn Nolting ist Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Esslingen.

Er ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit der Befähigung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Psychoanalytiker. Innerhalb der Psychosomatischen Fachgesellschaft (DGPM) ist er Sprecher der Sektion „Kinder-, Jugend- und Familienpsychosomatik“ und hat in dieser Funktion an der Aktualisierung der S3-Leitlinie zur Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen mitgewirkt.

Was sind Ursachen für Depressionen?

Depressionen sind multifaktoriell, das heißt, dass sie sich nicht auf eine Sache reduzieren lassen. In diesem Zusammenhang ist das biopsychosoziale Modell hilfreich. Es zeigt, dass biologische, psychische und soziale Faktoren eine Rolle spielen. Kommen Depressionen beispielsweise in der Familie vor – genetische Komponente – ist das Risiko, auch an einer Depression zu erkranken, erhöht. Psychische Faktoren sind beispielsweise die Trennung der Eltern oder ein Umzug oder Schulwechsel.

Soziale Faktoren spielen besonders im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine bedeutende Rolle. Der Mensch ist ein „Herdentier“. Die Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch des Austauschs. Durch die Pandemie fiel dieser wichtige Raum für junge Menschen weg. Sie waren zuhause oft auf engem Raum isoliert.

Auch die sozialen Medien können im Zusammenhang mit Depressionen eine wichtige Rolle spielen. Durch das Smartphone sind junge Menschen permanent online. Influencer gaukeln das scheinbar perfekte Leben vor, das sehr wenig mit dem eigenen Leben zu tun hat. Außerdem können soziale Medien das Gefühl des Ausgeschlossenseins verstärken. Man bekommt mit, dass Freundinnen und Freunde sich treffen und ist nicht dabei. Dieser Schmerz des Ausgeschlossenseins lässt sich wie körperlicher Schmerz sogar im Gehirn messen.

Wie kann ich als Elternteil mein Kind unterstützen, wenn es unter Depressionen leidet?

In dieser Situation ist es das Wichtigste, für das Kind da zu sein und dem Kind zu signalisieren „So wie du bist, bist du gut“. Man sollte das Kind darauf ansprechen, dass man ein verändertes Verhalten bemerkt und sich als Gesprächspartner anbieten, aber nicht insistieren. Auf keinen Fall darf man dem Kind Vorwürfe machen, da Depressionen ohnehin oft mit Selbstvorwürfen zusammenhängen. Verschließt sich das Kind komplett, sollte man sich Unterstützung von außen holen.

Ein guter Ansprechpartner ist hier zunächst der Kinder- oder Hausarzt, da er das Kind, die Familie und seine Krankengeschichte meist schon lange kennt. Auch Schulsozialarbeiter können eine erste Anlaufstelle sein. Wichtig ist für Transparenz zu sorgen, also nicht über den Kopf des Kindes hinweg Kontakt zu Dritten aufzunehmen, sondern dem Kind offen zu sagen, dass man alleine nicht mehr weiter weiß und sich nun Unterstützung von außen holt.

Wer ist erste Anlaufstelle bei einer Depression?

Erste Anlaufstelle kann neben dem Haus- und Kinderarzt beispielsweise eine Familienberatungsstelle des Landratsamts oder der Kirche sein.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Eine Depression wird auf verschiedenen Ebenen behandelt: psychotherapeutisch und medikamentös, oft auch zusätzlich begleitet von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.

Wie komme ich an einen Therapieplatz für mein Kind?

Bei einem Notfall, also konkreter Suizidgefahr, sollte man immer sofort in die nächst zuständige Kinder- und Jugendpsychiatrie gehen. Dort wird das Kind zur Krisenintervention dann auch kurzfristig aufgenommen. Notfalls kann man auch direkt 112 wählen.

Auf der Suche nach einem regulären Therapieplatz sollte man auf den Kinder- oder Hausarzt zugehen, da dieser mit anderen Ärzten vernetzt ist und weiß, wo eventuell ein Platz frei wird. Auf www.arztsuche-bw.de bietet die Kassenärztliche Vereinigung in Baden-Württemberg eine Suchfunktion für freie Therapieplätze. Auch Institute, an denen Ärzte und Psychologen zu Psychotherapeuten weitergebildet werden, bieten in ihren Ambulanzen Erstgespräche an.

Das Klinikum Esslingen ist derzeit im Rahmen einer bundesweiten Studie an der Erprobung der Chatbot-App iCAN beteiligt. Wie unterstützt iCAN den Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die unter Depressionen leiden, konkret?

Die App bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach einem stationären Klinikaufenthalt Unterstützung im Umgang mit der Depression. Sie hilft bei der Alltagsorganisation und bietet Beratung durch einen Tele-Psychologen, solange noch kein regulärer Therapieplatz gefunden wurde. Es ist wichtig zu betonen, dass die App kein Ersatz für eine Therapie ist. Sie soll dazu beitragen, dass die Ergebnisse des stationären Aufenthalts nicht verloren gehen, während man auf einen Therapieplatz wartet. Sie überbrückt also den Zeitraum bis zur Therapie. Das Interesse, an der Studie teilzunehmen, ist seitens der Patientinnen und Patienten sehr hoch. Die Studienerhebung läuft noch bis Ende 2024.

Vielen Dank für das Gespräch.

iCAN ist ein Angebot für 13- bis 25-Jährige mit einer Depression. iCAN begleitet Betroffene während der ersten drei Monate nach der Entlassung aus der Klinik. In dieser Phase unterstützt iCAN auf zwei Wegen:

  • eine Tele-Psychologin beziehungsweise ein Tele-Psychologe motivieren Betroffene und helfen, an Therapieerfolge anzuknüpfen
  • die App zur Selbsthilfe unterstützt im Umgang mit der Depression im Alltag. Mehr Infos unter: ican-studie.de