Ein Vater spricht seinem Baby ein Wort vor, während das Baby versucht nachzuahmen.
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Das Wunder kindlicher Sprachentwicklung

01.01.2021

Wenn ein Kind in den ersten Lebensjahren zu sprechen beginnt, kommt das den Eltern fast wie ein Wunder vor. Sie können nur staunen, wenn sie erste Laute, dann einzelne Worte und schon bald Zweiwort­Kombinationen und einfache Sätze von ihrem Sprössling hören.

Weil das Sprechen Kindern nicht systematisch beigebracht werden muss, sind Eltern immer wieder überrascht, wenn ihre Kinder wie von alleine neue Laute und Wörter hervorbringen. „Nicht die Sprache selbst, sondern die Fähigkeit zum Spracherwerb ist uns angeboren“, erklärt die Verhaltensbiologin Dr. Gabriele Haug-Schnabel. Babys seien „genetisch auf den Spracherwerb vorbereitet und benötigen darum keine bewusste Aufmerksamkeit auf das Lernen selbst“, betont Haug-Schnabel.

Gurrperiode

Einige Lautsignale stehen bereits dem neugeborenen Säugling zur Verfügung. Mit ihnen informiert er seine Eltern über sein Befinden: So gibt es spezielle Signale für leichten Unmut, einen typischen Laut, den das Baby im Schlaf äußert, einen Kontaktlaut nach dem Aufwachen und einen Trinklaut, der beim Stillen zu hören ist.

In den ersten Lebenswochen, die als erste Lallphase oder auch „Gurrperiode“ bezeichnet werden, bildet das Baby Laute, die noch universell sind, also bei Kindern auf der ganzen Welt gleich. Es erzeugt Laute wie Gurgeln, Schmatzen oder Schreien und lernt, wie seine Umwelt auf diese reagiert.

Lallphase

Dann, etwa zwischen dem dritten und siebten Lebensmonat, beginnt die zweite Lallphase. Die Babys drücken gezielt Bedürfnisse und Wünsche aus und wechseln dabei die Tonhöhe und Lautstärke. Lallend können die Kleinen bereits Gefühle ausdrücken, beispielsweise wenn sie jauchzen vor Freude.

Etwa ab dem zehnten Lebensmonat beginnt das Kind im Rahmen seiner Möglichkeiten zu kommunizieren, indem es Doppelsilben wie „dei-dei“, „ma-ma“ oder „ba-ba“ nachahmt. Die Kleinen lernen gerne und schnell, weil sie sich den Menschen in ihrer Umgebung mitteilen wollen und dabei bemerken, dass hierzu die Sprache notwendig ist.

Die Lallphase endet im Alter zwischen zehn und 14 Monaten, wenn die ersten Worte fallen. Dabei handelt es sich um häufig gehörte Worte, wie Mama, Papa oder der eigene Name, die das Kleinkind bereits aus einem Gespräch heraushört. Auch wenn es große individuelle Unterschiede im Spracherwerb gibt, kann man davon ausgehen, dass Kinder noch vor ihrem ersten Geburtstag zwischen 20 und 150 Worten verstehen.

Wortschatz und Grammatik

Die eigentliche Sprachentwicklung beginnt erst mit etwa anderthalb Jahren: Explosionsartig entfaltet sich der Wortschatz, neue Wörter werden erlernt und kombiniert und sogar erste grammatikalische Regeln angewandt. Das Kind „sammelt nun immer mehr Worte und beginnt, diese miteinander zu kombinieren“, erklärt Haug-Schnabel. Doch eine reine Wörter-Lern-Strategie wäre zu einseitig, weshalb „Kinder schon bald merken, dass sie mit Sprache etwas bewirken können und bereits ab zwei Jahren komplette Wendungen, die sie aus anderen Sätzen aufschnappen, wie „guck-mal“ oder komm-mal-her“ ganzheitlich lernen“, betont die Verhaltensbiologin weiter.

Bevor ein Kind vier Jahre alt wird, hat es in der Regel die Grammatik seiner Muttersprache erworben und die notwendigen Sprachlaute erlernt. Schließlich wächst der Wortschatz bei normaler Entwicklung bis zur Einschulung auf über 3.000 Wörter.

Individuelle Unterschiede

Jedes Kind ist individuell in seiner Entwicklung und so erfolgt auch die sprachliche Entwicklung bei einigen Kindern nicht genau nach dem gängigen Schema. Eltern, die das Gefühl haben, dass ihr Kind trotz ihrer Bemühungen und Förderung kaum oder schlecht spricht, sollten fachkundlich abklären, ob eine Sprachentwicklungsstörung vorliegt. Doch nicht jede Sprachverzögerung ist therapiebedürftig. Der Kinderarzt und gegebenenfalls ein Logopäde können feststellen, ob das Kind in seiner Entwicklung unterstützt werden sollte oder ob sich die Verzögerung voraussichtlich von alleine auflösen wird.

In die Logopädische Praxis von Saskia Tokarz in Stuttgart kommen schon Kinder ab zweieinhalb Jahren. Die Logopädin und ihr Team versuchen, ihren kleinen Patienten zu helfen, wenn sie beispielsweise Buchstaben auslassen oder falsche Artikel verwenden. „Bei den Kleinen läuft die logopädische Betreuung noch sehr spielerisch ab“, erklärt Tokarz. Dabei richtet sie sich ganz nach den Interessen des Kindes und spielt mit ihm Bauernhof ebenso wie Einkaufsladen.

„Die Kinder sollen das Spiel sprachlich begleiten, indem sie die Dinge benennen, vielleicht einen Plural bilden oder dazu passende Dinge suchen und nennen“, beschreibt die Logopädin ihr Vorgehen. „Viele Kleinkinder verwechseln auch Laute oder sprechen sie falsch oder gar nicht aus“, erklärt Tokarz. Solche Störungen seien meist schon nach sechs bis zwölf Besuchen in ihrer Praxis deutlich besser oder behoben und die erlernten Übungen können bei Bedarf zuhause wiederholt werden. Mit Vorschulkindern, die häufig mit Aussprachestörungen wie Lispeln zu ihr kommen, macht Tokarz dann schon so manche gezielte Sprachübung.

Zweisprachig aufwachsen

Für Kinder, deren Muttersprache eine andere ist, als die Sprache, die in der Kita gesprochen wird, scheint der Spracherwerb zunächst besonders schwierig zu sein. Doch Logopädin Tokarz weiß aus Erfahrung, dass das Gegenteil der Fall ist und Kinder, die zweisprachig aufwachsen, meist über bessere kognitive Voraussetzungen verfügen. Ergebnisse aus der Hirnforschung bestätigen diese Beobachtung. „Wichtig ist nur, dass die Eltern mit dem Kind in ihrer Muttersprache sprechen“, appelliert Tokarz, damit es keine fehlerhaften Worte nachahme und lerne.

Anregungen durch die Eltern!

Im frühen Kindesalter ist es besonders wichtig, dass die Eltern ihr Kind ermuntern zu sprechen und es so beim Erlernen seiner Muttersprache unterstützen. Bereits in der Lallphase empfiehlt die Heidelberger Sprachtherapeutin Birgit Lange das Lallen zu imitieren, gemeinsam mit dem Kind Geräusche, zum Beispiel von Tieren, nachzuahmen und Grimassen zu schneiden. Das sprachliche Vorbild durch die Eltern hält Lange beim Erlernen der ersten Worte und Sätze für besonders wichtig und rät dazu, langsam und deutlich zu sprechen und einfach Sätze zu verwenden. Dann bedürfe es keiner Baby- oder Robotersprache, dass das Kind versteht und das Verstandene verarbeiten kann.

Saskia Tokarz ermuntert Eltern dazu, die Tätigkeiten im Alltag mit Worten zu begleiten. „Allerdings sollte man auch nicht ununterbrochen auf das Kind einreden oder das Gesprochene korrigieren. Eine korrektive Rückmeldung, indem man das vom Kind fehlerhaft Gesagte in richtiger Form wiederholt, reicht völlig aus“, so Tokarz.

Spracherwerb durch Vorlesen

Das Vorlesen von Geschichten fördert bekanntlich die emotionale Entwicklung und regt die Kreativität und Phantasie an. Doch es erweitert natürlich auch den Wortschatz von Kindern und gibt ihnen ein Gefühl für die Sprache. „Wichtig ist jedoch, auch danach über das Gelesene zu sprechen“, betont Logopädin Tokarz, denn Kommunikation sei noch immer das beste Sprachtraining.

Lieder und Gedichte haben im Vergleich zur gesprochenen Sprache einen noch einprägsameren Rhythmus. So wird der Wortschatz erweitert und das Sprachgefühl verbessert. Auch Sprach- oder Sprechspiele können einen wertvollen Beitrag zur Sprachentwicklung leisten. Über Fingerspiele für die Kleinen oder Zungenbrecher für die etwas älteren Kinder kann die Artikulation deutlich verbessert werden.

Literaturtipps zur Sprachförderung

Meine ersten 100 Wörter: Foto-Wörterbuch, Ars Edition 2017, 40 Seiten (Pappe), EUR 6,99 , ISBN 978-3-845-82023-1, ab 1

Hans-Joachim Gelber(Hg): Wo kommen die Worte her?, Beltz & Gelberg 2015, 264 Seiten, EUR 24,95, ISBN  978-3-407-79986-9, ab 3

Elena Bruns: 1000 erste Wörter: Mein Bildwörterbuch für den Kindergarten, Dorling Kindersley 2020, 61 Seiten, EUR 12,95 ISBN 978-3-831-03937-1, ab 3

Sprachförderspiele: sprechen - reimen - singen mit allen Sinnen, Ernst Kaufmann 2018, 64 Seiten, EUR 9,95, ISBN 978-3-78065-117-4, ab 3

Moni Port / Philip Waechter(Illustrationen): Der Flugplatzspatz nahm auf dem Flugblatt Platz: Schnellsprecher und Zungenbrecher, Klett 2019, 48 Seiten, EUR 10,00, ISBN 978-395470-177-3, ab 5

Informationsangebot zur Entwicklung der kindlichen Sprache unter: www.mutterspracherwerb.de