Bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft

01.08.2019

Die Kinder hören mal wieder nicht, das Kinderzimmer wird nicht aufgeräumt, die Hausaufgaben verweigert. Der Umgangston in der Familie ist anders, als man ihn sich wünschen würde. Wer kennt das nicht? Katharina Saalfrank, Katja Seide und Co. zeigen uns neue Wege zu einem wertschätzenden Miteinander.

Bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft ist keine Methode, sondern eine Grundhaltung. Man geht davon aus, dass Kinder nicht im eigentlichen Sinne „erzogen“ werden müssen, weil man sie nicht in eine bestimmte Richtung ziehen möchte. Katharina Saalfrank, Autorin diverser Sachbücher zum Thema, wendet sich gegen die autoritäre Erziehung. Dass wir denken, wir müssten unsere Kinder mit Strafen und Sanktionen an ein von uns gewünschtes Verhalten anpassen, sei ein weit verbreitetes Missverständnis. Kinder seien aber von Natur aus vollwertige Menschen, keine „Tyrannen“, sondern „gut“ und kooperativ. Sie müssten also nicht erst durch Anweisungen, Verbote und Strafen geformt werden.

Bedürfnisorientiert

Wenn wir unsere Kinder nicht erziehen, wie sollen wir uns dann verhalten? Katja Seide ist Expertin für bindungs- und bedürfnisorientierte Elternschaft. Sie ist Co-Autorin diverser Sachbücher und eines vielgelesenen Blogs. Sie beantwortet die Frage folgendermaßen: „Es geht nicht darum, immer nur die Wünsche der Kinder zu erfüllen oder ihnen keine Grenzen zu setzen, sondern es geht um ein Abwägen, wessen Bedürfnis im Moment am schwersten wiegt.“ Auf die Bedürfnisse, nicht auf das Verhalten des Kindes, wird ein besonderes Augenmerk gelegt: Warum sträubt sich mein Kind gerade, seine Schuhe anzuziehen? Warum ist das morgendliche Aus-dem-Haus-Kommen ein regelrechter Kampf? Vielleicht liegt es daran, dass das Kind gerade in ein Spiel vertieft war oder ohnehin ungern in die Schule oder den Kindergarten geht? Vielleicht gab es dort gerade einen Konflikt, dem sich das Kind nicht aussetzen möchte? Welche Bedürfnisse hat also mein Kind, dass es sich so verhält?

Was tun in so einer Situation? Annika Matthias vom Deutschen Kinderschutzbund Stuttgart e.V. (DKSB OV), dessen Mitarbeiter durchaus auch bindungs- und bedürfnisorientiert denken, rät, das morgendliche Programm in so einem Fall trotzdem „durchzuziehen“, aber den Kindern zu erklären, dass es eben gerade im Moment schnell gehen muss. Man solle im Übrigen Verständnis dafür zeigen, wenn das Kind, dessen Spiel unterbrochen wurde, gerade frustriert sei. Habe man als Elternteil das Gefühl, dass hinter dem morgendlichen Konflikt mehr stecke als eine momentane Unzufriedenheit, solle man in einem ruhigen Moment das Gespräch mit dem Kind suchen.

Bedürfnisse unter einen Hut bringen

Katja Seide und Danielle Graf schildern in „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn: Gelassen durch die Jahre 5 bis 10“ ein ähnliches Fallbeispiel. Ein Kind, das unfreiwillig am Morgen aus der Situation gerissen wurde, verweigert sich bis zum Kindergarten und die Mutter kommt dort total verschwitzt und entnervt an. Das kann natürlich passieren. Die Mutter schwört sich in diesem Moment, niemals wieder den Willen des Kindes derart zu brechen.

Natürlich wäre das der Königsweg. Gelänge es, Stress am Morgen zu vermeiden und sich auf die Bedürfnisse des Kindes so gut es geht einzustellen, würde man sich jede Menge Konflikte sparen. Wenn es aber einfach nicht geht, weil das Zeitmanagement versagt hat und man als Eltern pünktlich zur Arbeit erscheinen muss, dann rangieren die Bedürfnisse der Eltern in diesem Moment an erster Stelle – mit allen Konsequenzen. Letztlich wird an diesem Beispiel gut ersichtlich, was es heißt, bedürfnisorientiert zu sein. Es gilt permanent, alle Bedürfnisse – auch die der Eltern – in die Waagschale zu werfen und vernünftig zu entscheiden, welches Bedürfnis gerade an erster Stelle steht.

„Führung“ ohne Strafen

Katharina Saalfrank schreibt in „Kindheit ohne Strafen“, Kinder seien ohne Führung verloren. Allerdings empfiehlt sie Eltern, Strafen aus dem Alltag zu verbannen. Diese würden zwar kurzfristig zu einem Erfolg führen, wenn ein Kind das erwünschte Verhalten zeige. Langfristig würden sie aber nicht nur das Selbstbewusstsein des Kindes untergraben, sondern auch den eigentlichen Konflikt nicht lösen, weil die Emotionen hinter dem Konflikt nicht ergründet würden. Dazu komme, dass Eltern, wenn sie strafen, mit einer Grenzüberschreitung gegenüber dem Kind auf eine Grenzüberschreitung des Kindes antworten würden – dabei hätten wir Eltern doch so eine entscheidende Vorbildfunktion und würden wollen, dass unsere Kinder einen respektvollen Umgang mit anderen pflegen. Von wem sollten sie das lernen, wenn nicht von uns?

Die verbreitete Auffassung, dass Kinder zu Tyrannen werden, wenn wir sie nicht regelmäßig in Schranken weisen würden, teilt sie nicht. Vielmehr würden Kinder, die selbst das Gefühl der Machtlosigkeit erdulden mussten, später auch Macht ausüben wollen, solche, die Gewalt erlitten, Gewalt ausüben.

Belohnungen werden übrigens auch abgelehnt. Würden sie einmal wegfallen, würden sie schließlich auch zu Strafen. Auch Katja Seide rät, auf Strafen zu verzichten, auch dann, wenn die Kinder uns provozieren. Provokantes Verhalten sei entweder ein Hilferuf oder gar ein Missverständnis. Um ruhig bleiben zu können, könnten Eltern versuchen, erst einmal das bestmögliche, unschuldigste Motiv des Kindes zu finden. „Ihr Kind hat sich von Kopf bis Fuß mitsamt der Kleidung mit Sonnencreme eingeschmiert? Nun, es wollte Ihnen helfen, schließlich sagen Sie ihm immer, eincremen wäre wichtig“, so Seide.

Grenzen setzen

Auch bindungs- und bedürfnisorientierte Eltern dürfen nicht nur, sie sollen auch Nein sagen. Reagiert ein Kind auf das „Nein“ frustriert, ist es sinnvoller, Verständnis für die Gefühle des Kindes zu zeigen, statt es von der eigenen Ansicht überzeugen zu wollen. Ein Kind, dem ein Eis verweigert werde – so eines der Beispiele in Saalfranks Buch – werde nicht durch vernünftige Argumente zu der Ansicht kommen, dass es nun also doch freiwillig auf sein Eis verzichtet, weil es am Vortag bereits ein Eis gegessen hat. Zeige man Verständnis für den Ärger des Kindes, wirke man nicht nur deeskalierend auf die Situation ein, sondern man schule das Kind auch darin, seine Gefühle besser wahrnehmen zu können.

Laut Katja Seide schließt es sich nicht aus, bedürfnisorientiert zu handeln und die Kinder abends um 20 Uhr ins Bett zu bringen, auch wenn diese behaupten, nicht müde zu sein. Gerade kleine Kinder könnten sich (noch) nicht selbst regulieren. Wenn das Kind dann innerhalb kürzester Zeit einschlafe, habe man ja offensichtlich das Bedürfnis nach Schlaf richtig erkannt. Es sei dann aber wichtig, das Kind wieder aufstehen zu lassen, wenn es gar nicht in den Schlaf finde. Die Eltern könnten trotzdem ihren verdienten Feierabend haben, indem sie das Kind lehren zu verstehen, dass Eltern abends frei haben. „Möchte das Kind noch wach bleiben, dann gern, aber eben ohne die Eltern als Spielkameraden und auch ohne die Geschwister zu wecken“, so Seide.

Wie schafft man das?

Eltern, die so handeln, müssen stark und reflektiert sein. Ihnen ist bewusst, dass es oft an eigenen Erfahrungen hängt, wenn wir aus der Haut fahren. Saalfrank widmet einen beträchtlichen Teil von „Kindheit ohne Strafen“ der Psyche der Eltern. Trotzdem kann es jeder, der es anders machen will, schaffen. Wesentlich sei, so Saalfrank, gegenüber den Kindern „umzufühlen“. Indem wir besser einschätzen lernten, was wir von unseren Kindern wirklich erwarten könnten, würden wir ihnen gegenüber auch ein positiveres Gefühl haben. Genau hier setzen auch die „Starke Eltern – starke Kinder“ – Kurse des DKSB OV an. Indem Eltern ihre eigenen Erfahrungen reflektierten und Beweggründe für das Verhalten der Kinder kennen lernten, würden sie Verständnis für ihre Kinder entwickeln und sie oftmals auch positiver wahrnehmen können.

Katja Seide bietet als Lösungsvorschlag für Eltern, die nicht immer wieder in alte Muster fallen wollen, Folgendes an: „Ich habe mit meinen Kindern diese Muster besprochen, dass ich manchmal in alte „Mecker-Programme“ rutsche und nicht selbst wieder rausfinde. Wir haben eine Art Codewort entwickelt, das die Kinder mir dann an den Kopf werfen. Mir hilft das, in dem Moment wieder zu mir zu kommen und die Schimpftirade abbrechen zu können.“ Natürlich besteht auch die Gefahr, dass Eltern sich überfordern und gleich an sich zweifeln, wenn sie mal nicht adäquat handeln konnten. Katja Seide versucht, Eltern Druck zu nehmen, indem sie sagt: „Eltern brauchen nicht perfekt sein. Kinder brauchen keine idealen Vorbilder, sondern echte Menschen an ihrer Seite, mit echten Gefühlen, echten Bedürfnissen und echten Ecken und Kanten.“ Es ist ein Gewinn, sich mit der bindungs- und bedürfnisorientierten Elternschaft zu befassen. Oftmals werden wir einfach daran erinnert, welche Grundregeln wir generell im zwischenmenschlichen Umgang beachten sollten.