Vor Jahren boomten noch die Begriffe „Wellness“ oder „Ayurveda“, wenn es um die Themen Wohlfühlen oder Stressabbau ging. In neuerer Zeit gibt es einen Hype um das Thema „Achtsamkeit“ und „Selbstfürsorge“. Achtsamkeitskurse schießen wie Pilze aus dem Boden. Ist die Achtsamkeitspraxis „Mindful Based Stress Reduction“ (MBSR) nach Jon Kabbat Zinn eine neue Therapieform? Woher kommt diese Bewegung überhaupt und kann mir Achtsamkeit auch im Familienalltag helfen? Wir haben uns über diese und weitere Fragen mit der Achtsamkeitstrainerin Andrea Kubiak unterhalten, die im Stuttgarter Osten selber Kurse dazu anleitet.

 

Frau Kubiak, Achtsamkeitskurse schießen seit einigen Jahren aus dem Boden. Gestresste Zeitgenossen verbringen ihre Zeit bei Sitzmeditation und Bodyscan. Können Sie uns kurz erläutern, worum es bei der Achtsamkeitspraxis „Mindful Based Stress Reduction“ (MBSR) geht?

Vielleicht wäre es zunächst hilfreich zu sagen, was MBSR „nicht“ ist: MBSR ist kein Wellness-Programm, kein Selbstoptimierungsweg und auch kein Entspannungsverfahren, wie zum Beispiel das Autogene Training oder die Progressive Muskelentspannung. Das MBSR-Achtsamkeitstraining ist aus meiner Sicht eine intensive Bewusstseinsschulung, mit verschiedenen Techniken, wie Bodyscan, Meditationsformen und Yogaübungen.

Wie muss ich mir das konkret ­vorstellen?                                                   

Bei der Achtsamkeitspraxis geht es zunächst einmal ums Innehalten, also darum, vom ständigen TUN ins einfache SEIN – mit sich selbst Sein - zu kommen. Die Achtsamkeit kann uns dabei helfen, von Moment zu Moment zu leben.

Was heißt von Moment zu Moment?

Das Leben findet nur in der Gegenwart statt, auch wenn wir alle diese Tatsache oft ausblenden. Meist sind wir sehr beschäftigt. Wie im Automodus rennen wir durch unseren Alltag, planen unsere Zukunft oder hängen gedanklich noch in der Vergangenheit. Die Vergangenheit ist längst vorbei, die Zukunft noch gar nicht da.

Wir vergessen das die meiste Zeit. Aber Tatsache ist, dass alles, was wir wirklich haben, nur dieser Moment in der Gegenwart ist. Achtsamkeit wendet sich radikal diesem gegenwärtigen IST-Zustand zu und erforscht ihn in dem Moment, in dem er in das Bewusstsein kommt. Selbstverständlich müssen wir alle im Alltag auch immer wieder Dinge und Termine planen und dafür ein Stück in die Zukunft vorausdenken. Auch der Blick in die Vergangenheit ist wichtig, um aus früheren Erfahrungen zu lernen. Aber wirklich leben und agieren, das tun wir dann ja doch wieder nur im Hier und Jetzt.

Ist deshalb auch der „Bodyscan“ so wichtig?

Der „Bodyscan“ ist als erste formelle Achtsamkeitsübung eingeführt, weil er uns mit dem Objekt der Achtsamkeit in Verbindung bringt, das uns am nächsten ist: mit unserem eigenen Körper. Der Bodyscan ist eine achtsame Reise hin zu den einzelnen Körperteilen. Wir erforschen dabei unsere Körperempfindungen von den Zehen bis zum Kopf. Es geht ums „Spüren“. Was zeigt sich zum Beispiel in diesem Moment am Fuß, an der Brust, am Rücken … Das kann ein Kribbeln, Wärme oder Kälte sein, vielleicht auch ein Gefühl von Anspannung oder Schmerz.

Auch Meditationsübungen haben einen wichtigen Anteil in der Achtsamkeitspraxis. Diese kommen ja eigentlich aus der buddhistischen Tradition Asiens?

Die Wurzeln der achtsamen Lebensweise finden sich in der Tat in den Jahrtausende Jahre alten Schriften Buddhas. Der amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat Zinn hat diese Praxis Ende der siebziger Jahre ursprünglich als achtwöchigen Kurs für Menschen konzipiert, die nach Bewältigungsstrategien für Stress, Schmerzen oder chronische Erkrankungen suchten. Die Essenz von Achtsamkeit ist universell und wird im MBSR-Kurs losgelöst von ideologischen oder religiösen Kontext gelehrt. Wer das Programm durchläuft, benötigt also keinen buddhistisch-spirituellen Hintergrund, profitiert aber natürlich von der spirituellen Weisheit, aus denen die Achtsamkeitspraxis wurzelt.

Zur Person:

Andrea Maria Kubiak: Jahrgang 1965, verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Heil­praktikerin für Psychotherapie, Systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin, MBSR-Lehrerin – Stressbewältigung durch Acht­samkeit und MSC-Lehrerin – Achtsames Selbstmitgefühl in eigener Praxis.

www.andrea-kubiak.de

 

Das Bild zeigt Andrea Kubiak

Kann man die Praxis der Achtsamkeit mit einer Therapie vergleichen?

Erfahrungen und Erkenntnisse, die in einem Achtsamkeitskurs gewonnen werden, können durchaus therapeutisch auf einzelne Teilnehmende wirken. MBSR ist aber keine Therapie. Der Achtsamkeitsweg jedes Einzelnen entsteht durch das regelmäßige Praktizieren. Welche inneren Prozesse dabei in Gang gesetzt werden, ist nicht vorhersehbar.

Wie wirkt die Meditationspraxis auf der körperlichen Ebene?                                     

Während der Meditation nehmen wir vor allem wahr, was ist. Wir bemerken körperliche Empfindungen, Geräusche, beobachten den natürlichen Atemfluss, auftauchende Gedanken und Emotionen. Dabei können wir erleben, wie Körper, Geist und Seele miteinander in Verbindung stehen und sich wechselseitig beeinflussen. Ein Beispiel: Fühle ich mich zum Beispiel gestresst, weil ich befürchte, den Bus zu verpassen, wirkt sich das automatisch auf meine Gedanken aus. Ich denke dann vielleicht „das schaffe ich nie“. Gleichzeitig kann ich beobachten, wie es zu bestimmten Körperreaktionen kommt. Wahrscheinlich spannen sich meine Muskeln an, vielleicht beiße ich verkrampft die Zähne aufeinander oder ziehe die Schultern hoch. Das sind klassische Stressreaktionen, die sich im Körper, aber eben auch gleichzeitig in der Art meiner Gedanken und Emotionen zeigen.

Manche erleben erst auf dem Meditationskissen oder beim Bodyscan, wie angespannt und gestresst sie wirklich sind oder an welchen Stellen wiederholt Schmerzen auftreten. Das MBSR-Programm wurde von Anfang an wissenschaftlich untersucht. So wurde belegt, dass Achtsamkeit nachweislich nicht nur positive Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden und die gefühlte Lebensqualität hat, sondern auch auf die Gehirnstrukturen.

In Langzeitstudien haben Wissenschaftler herausgefunden, dass sich durch die Meditation jene Areale im Gehirn verändern, die für das Gedächtnis, das Lernen und die Emotionskontrolle zuständig sind. Auch die Dichte der grauen Zellen nahm bei langjährig Meditierenden deutlich zu.

Eltern stehen im Familienalltag häufig auch ganz schön unter Stress.

Eine Familie zu „managen“ und Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, ist eine der schönsten und anstrengendsten Aufgaben zugleich. Aus meiner eigener Erfahrung als Mutter und aus dem, was mir die Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer berichten, wirkt sich das eigene Achtsamkeitstraining mit der ganzen Palette seiner Wirksamkeit ganz direkt – und zwar positiv - auf den Familienalltag aus. Denn die Einsichten, die ich durch die Achtsamkeit über mich selbst, meine Verhaltensmuster, Fühl- und Denkweisen, Werte gewinne, über all das, was mich ausmacht, was mich stresst und freut, fließen auf ganz natürliche Weise auch in meine Haltung und in meine Elternrolle mit ein. Am eindrücklichsten finde ich, dass Achtsamkeit neue Wege zu einer neuen Beziehungsqualität zwischen den Partnern/Eltern und Kindern eröffnet.

Die Beziehung zueinander und wie wir diese leben, bestimmt die Qualität des Miteinanders in Familien, nicht die Erziehung.

Wie meinen Sie das?

Ein Beispiel: Wenn ich gelernt habe, immer wieder bei mir selbst, bei meinem Atem anzukommen und im Alltag innezuhalten, kann ich auch innerlich einen Schritt zurücktreten und mir ein paar Atemzüge gönnen, wenn meine Kinder miteinander streiten. Zwischen Reiz (Kinder streiten) und Reaktion (Ich möchte den Streit beenden, indem ich mich einmische) habe ich durch dieses Innehalten ein Stück Freiheit gewonnen, ein paar Sekunden, in denen ich neu entscheiden kann, ob es jetzt nützlich ist, mich einzumischen - was es eben oft nicht ist. Ich lasse mich also wahrscheinlich nicht mehr so leicht in die wenig hilfreiche Schiedsrichterposition bringen, sondern kann die Situation wie von außen von der Zuschauertribüne aus betrachten.

Es könnte sein, dass sich herausstellt, dass die Kinder ihren Streit dann auch ohne mein Zutun geregelt kriegen (Selbstwirksamkeit) und an dieser Erfahrung wachsen. Als Mutter oder Vater könnte ich dabei die Erfahrung machen, dass ich nicht immer alles unter Kontrolle haben muss, auch mal gelassen bleiben darf und loslassen kann. Das stärkt nicht nur mein Vertrauen in mich, sondern auch das Vertrauen in meine Kinder.

Buchtipp   

Buchcover von "Achtsam Eltern sein - für ein gelassenes und glückliches Familienleben

Amber Hatch, Achtsam Eltern sein - für ein gelas­senes und glückliches Fami­lien­leben, Trias 2018, 248 Seiten , ISBN: 9783432106687, 16,99 Euro

 

Tipps & Wissenswertes in Kürze

Der klassische MBSR-Kurs besteht aus 8 bzw. 9 Einheiten, wenn man den Tag der Achtsamkeit dazu zählt (ein ganzer Übungstag im Schweigen). Um wirklich entscheiden zu können, ob ein MBSR-Kurs zu einem bestimmten Zeitpunkt das Passende ist, ist für die verbindliche Anmeldung ein ausführliches, telefonisches Informationsgespräch Bedingung. Qualifizierte und zertifizierte MBSR-Lehrerinnen und Lehrer findet man über den Bundesverband: www.mbsr-verband.de